querpass: Der Abstiegskampf 2003 zehrte am dicken Manager
von Oskar Beck
Seit sich der Schriftsteller Peter Handke aus der Tiefe des literarischen Raumes dem Fußball genähert hat, wissen wir über die gräßliche Angst des Torwarts beim Elfmeter nahezu alles.
Ist die Abstiegsangst noch fürchterlicher?
Womöglich erfahren wir schon diese Woche mehr darüber. Die Staatsanwaltschaft in Köln scheint jedenfalls wild entschlossen zu sein, sich von Reiner Calmund zwanglos schildern zu lassen, wie tückisch sein ehemaliges Leben als Manager in Leverkusen war - und wenn nur die Hälfte der vagen Gerüchte zutrifft, über die am Wochenende hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde, wollen die emsigen Ermittler in ihre Vernehmung nebenbei klammheimlich noch zwei listige Fragen einbauen.
Erstens: Wo sind die 580 000 Euro verblieben, die Bayer 04 im Rahmen des "unklaren Geldflusses" vermißt?
Zweitens und schlimmstens: Sind damit im hochdramatischen Abstiegskampf der Saison 2002/2003 die lebenswichtigen Siege über 1860 München, Bielefeld und Nürnberg unterstützend begleitet worden?
Angriff ist die beste Verteidigung, sagt sich der routinierte Fußballstratege Calmund in der Not, und weil das Letzte, was ihn je gequält hat, eine übertriebene Scheu vor den Fernsehkameras ist, hat er sich jetzt im "Kölner Treff" des WDR zwar nicht an den Lügendetektor, aber immerhin an Bettina Böttinger anschließen lassen - und, als die Moderatorin forsch und kühn wissen wollte, ob er Dreck am Stecken hat, auf unschuldig plädiert und zur eigenen Entlastung ungefähr gesagt: "Da war nix - schauen Sie sich doch die Spielausschnitte von damals an."
Besser nicht. Die Sportskameradin Böttinger könnte sonst eine Szene aus der achten Minute des Spiels Leverkusen gegen 1860 am 17. Mai 2003 womöglich in den völlig falschen Hals bekommen. Da hat sich der kleine Thomas "Icke" Häßler (München) im Mittelfeld den Ball geschnappt und ist unwiderstehlich losgetanzt, nur dummerweise in Richtung des eigenen Tores, kurz: Er hat aus Versehen die Spielfeldhälften verwechselt. Am Ende seines atemberaubenden Dribblings ließ er sich von Carsten Ramelow den Ball abluchsen, und Daniel Bierofka mußte nur noch abstauben - 1:0 für Leverkusen.
So kommt "Calli" nicht weiter. Irgendwie muß er die Sache anders anpacken. Vielleicht sollte er beispielsweise mehr in Richtung der Frage gehen: War er körperlich und seelisch in jenen chaotischen Wochen der panischen Emotionen denn in der Lage, noch kühlen Kopf zu bewahren und kaltschnäuzig zu manipulieren - und hätte er im Rahmen seiner Aufregung denn überhaupt noch die Zeit dazu gehabt?
Wir haben uns ins Archiv begeben und übers Wochenende geschwind nachgelesen, in wel-chem tag- und abendfüllenden Ausnahmezustand der damalige Bayer-Manager sich befand - und dabei seinen verzweifelten Satz gefunden: "Das Abstiegsgespenst sitzt zu Hause in meinem Wohnzimmer. Und wenn ich abends das Licht ausknipse, liegt es schon unter meiner Decke."
Das Abstiegsgespenst. Es hat ihn beherrscht, ihn verfolgt, ihm das Leben zur Hölle gemacht. Mitten in der Nacht hat es ihn schweißgebadet aufwachen lassen - und schon morgens um halb sechs trieb es ihn erwiesenermaßen regelmäßig zum Kühlschrank. Die Angst fraß die Seele auf, und "Calli" seine Frikadellen.
Alles hat er in sich hineingefuttert, Fast Food, Frust und Fußball, und samstags hockte er schwitzend und schnaufend im Stadion, in seine dreieinhalb Schalensitze gepreßt, und hörte dermaßen den eigenen Blutdruck steigen, daß sicherheitshalber sein Leibarzt, der Internist Dr. Karl-Heinrich D., als Schutzengel schräg hinter ihm auf der Tribüne saß.
Der Medizinmann Dieter Trzolek war derweil unten am Spielfeldrand für alles gewappnet. In seinen Notfallkoffer hat die Boulevardpresse, geduldet von "Calli", einmal einen ganz tiefen Blick geworfen, so daß ein Millionenpublikum in den Genuß detaillierter Nahaufnahmen kam, von der Kochsalzinfusion samt Kanüle über das gefäß- erweiternde Nitrospray bis zur Zungenzange - "falls", wie die Jungs von "Bild" flankierend erklärten, "Calmund ohnmächtig wird und die Zunge verschluckt."
Streß, nichts als Streß. Und dann auch noch der mit den Trainern. Kaum hatte "Calli" bild-füllend und tief bewegt allen verfügbaren Kameras geschworen, daß es noch kein Gespräch mit anderen Trainern gegeben habe ("Ich gebe mein Wort, beim Leben meiner Kinder"), da warf er Klaus Toppmöller raus, holte Thomas Hörster, warf auch den wieder raus und holte Klaus Augenthaler.
Irgendwas war immer. Wochenlang, pausenlos und täglich geisterte das Abstiegsgespenst samt dieser mitteilungsbedürftigen Ladung Mensch durch alle Kanäle, redete ohne Punkt und Komma als Krisenmanager, Alleinunterhalter und Wanderprediger seinen Klub, seine Trainer, die Fans und sich selbst schwindlig, als Nervensäge und Zappelphilipp schleppte er sich von einem Mikrophon zum nächsten, und noch am Tag vor dem finalen Schicksalsspiel in Nürnberg hat er ungefähr 320 Interviews gegeben und mit pochendem Puls prophezeit: "Das gibt ein Herzschlagfinale."
Wir fassen zusammen: Rund um die Uhr und lückenlos wurde Reiner Calmund in jener Endphase der Saison 2002/2003 mitsamt seinem ungehemmten Redeschwall und seinem wachsenden Streß übertragen, live, in Farbe und in voller Länge, keine Minute war er allein, entweder war eine Fernsehkamera dabei oder die "Bild"-Zeitung, der Leibarzt oder der Medizinmann, auf jeden Fall aber das Abstiegsgespenst - er wäre also gar nicht in der Lage gewesen, unbeobachtet krumme Dinger zu drehen. Und wann er hätte er denn dazu noch Zeit haben sollen?
Es spricht fast alles für "Calli".