In aller Stille setzt Skibbe auf Risiko

  • Versöhnen statt spalten: Der Trainer kämpft erfolgreich gegen Klischees und die Leverkusener Selbstzufriedenheit


    Von Richard Leipold


    Leverkusen. Als Michael Skibbe seinen Dienst als Cheftrainer von Bayer Leverkusen antrat, überwogen die Zweifler. Der vierzig Jahre alte Fußball-Lehrer übernahm eine Mannschaft, die unfähig schien, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen. Der suspendierte Kapitän Jens Nowotny und seine streitlustigen Berater verkehrten mit dem Klub vor allem gerichtlich. Würde Skibbe diesen Verein und seine Protagonisten in Schwung bringen können? Ausgerechnet ein Trainer, der vom Deutschen Fußball-Bund kam? Wie oft waren Übungsleiter, die vom Verband zum Verein wechselten, im rauhen Alltag der Bundesliga schon gescheitert! War Skibbe nicht bloß der Statthalter Rudi Völlers auf der Trainerbank, ein ausführendes Organ mit beschränkter Kompetenz und beschränkter Haftung? Gut sechs Monate später ist die Skepsis dem Respekt gewichen. Aus der Tiefe des Mittelmaßes kommend besitzt Bayer die besten Chancen auf das Erreichen des fünften Platzes - und zwei Punkte Vorsprung vor dem einzig verbliebenen Mitbewerber Hertha BSC Berlin. Die Vorentscheidung in diesem Zweikampf könnte an diesem Dienstag im Olympiastadion fallen. Und Nowotny, wiewohl nicht mehr ganz jung, zählt wieder zum (erweiterten) Kreis der Kandidaten, die für die Weltmeisterschaft in Frage kommen.


    Was hat Skibbe aus Bayer gemacht? Der sportliche Erfolg, verkörpert durch fünf Siege in Serie, teils anspruchsvoll herausgespielt, hat Bayer einen Imagegewinn gebracht, der die wirtschaftlichen Verwerfungen am Rande der Legalität und der Kommentare zumindest lindert. Niemand fragt mehr, ob Skibbe der Richtige sei. Aller Anfang war allerdings schwer gewesen für ihn. Eine ganze Weile hatte es so ausgesehen, als sollte auch dieser Trainer an der zuweilen merkwürdigen Mentalität der Bayer-Profis scheitern, die oft selbstzufrieden daherkommen. Mit Grausen erinnert sich der Trainer an das dilettantische taktische Verhalten seiner Mannschaft bei der verpatzten Premiere in Mainz. Nachhaltiger Erfolg stellte sich erst viel später ein, aber vielleicht noch rechtzeitig. Gegen Ende der Hinrunde kam wieder so eine Phase, in der die Spieler gedacht haben müssen es ginge von selbst. Aus vier Runden, darunter drei Heimpartien, erbeutete Bayer nur zwei Punkte - ohne den Anschluß zu verlieren. "Alle anderen Mannschaften um uns herum hatten ähnliche Probleme, sie sind uns nicht einteilt", sagt Skibbe.


    Zu Beginn der Rückrunde vermeintlich genesen, fiel die Mannschaft in der zweiten Serie in ein Tief, diesmal aber kurz und schmerzlos. Rückblickend sieht der Trainer die Niederlagen in Bielefeld und daheim gegen Mainz als heilsamen Doppelschock an. "Der Schlüssel zur erfolgreichen Rückrunde waren diese beiden fast schon desolaten Spiele." Danach habe die Mannschaft gezeigt, daß sie mehr sei als ein zur Gleichgültigkeit neigender Haufen von Egomanen. Bayer gewann in Stuttgart, von da an lief es wie von selbst.


    Vor dem Stuttgart-Spiel, das er immer wieder als Wendepunkt markiert, stand auch Skibbe auf der Kippe - nicht im Klub, wie er sagt, sondern in den Medien, ohne daß er deswegen Angst bekommen hätte. "Irgendwann wächst der Druck." Die Heimniederlage gegen Mainz hatte ihn auch persönlich zurückgeworfen; plötzlich fühlten die Zweifler sich bestätigt, das Klischee lebte weiter. Ein Journalist fragte Skibbe, ob er sich am Mainzer Kollegen Jürgen Klopp nicht ein Beispiel nehmen müsse. Klopp sei immer in Bewegung und lebe seine Emotionen aus. Die Frage habe in der Unterstellung gegipfelt, er, Skibbe, sei dazu nicht fähig, und so spiele seine Mannschaft auch. Der sonst ruhige Bayer-Trainer reagierte empört, so emotional, wie der Reporter es sich offenbar wünschte, wenn auch auf dem Fußballplatz. Jeder Trainer habe seinen eigenen Stil, ohne deswegen besser oder schlechter zu sein als andere; deshalb sei "diese Frage eine Frechheit", sagte Skibbe.


    Ob journalistisch provoziert oder sportlich herausgefordert: Skibbe geht in die Offensive - und ins Risiko. Als er in Leverkusen anfing, bekam er die Vorgabe, Jens Nowotny, der raffgierige Kläger, sei außen vor. "Der spielt nie mehr für Bayer", hatte die Geschäftsführung verfügt. Skibbe willigte ein und arbeitete dennoch am Comeback des Verteidigers. Als Bundestrainer lange und gut mit dem Abwehrstrategen bekannt, setzte er sich nach Nowotnys gutdotierter Klagerücknahme mit Erfolg für ein Comeback des Spielers ein. Selbst als der abtrünnige Rekonvaleszent (aus arbeitsrechtlichen Gründen) nur geduldet war, beließ ihn der Trainer im Spielerrat und sicherte ihm die Teilnahme an den Mannschaftssitzungen.


    Versöhnen statt spalten ist offenbar das Motto Skibbes. Auch den jungen Mittelfeldspieler Clemens Fritz versucht er emotional so lange wie möglich an Bayer zu binden. Es ist seit längerem bekannt, daß der Jungprofi im Sommer zu Werder Bremen wechselt. Dennoch spornt Skibbe ihn an, sich bis zuletzt für Bayer einzusetzen, schon um mögliche Kritiker in Bremen zu überzeugen. Bayer Leverkusen ist nicht mehr der Klub, der nur einkauft, koste es, was es wolle. Skibbe aber hat diesem lange auf die wirtschaftliche Stärke des Konzerns fixierten Klubs einen neuen theoretischen Überbau gegeben: Niemanden ausgrenzen, und sei er (in Gedanken) noch so weit von der Mannschaft entfernt.


    Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung