Sie suchen die Konfrontation, aber mit Gewalt wollen sie nichts zu tun haben: Ultras – Fußballfans der etwas radikaleren Art
Von Lars Spannagel
Sechs Wochen lang hießen die Gegner nur Wuppertal, Lübeck oder Borussia Dortmund II. War alles Vorgeplänkel. An diesem Tag aber geht es nach Berlin, zu Union. Ein Ostderby für den 1. FC Magdeburg, wie in alten DDR-Oberliga-Zeiten. An diesem Tag muss man sich beweisen, zeigen, wer die Macht ist. Auf dem Platz, das sowieso, aber auch drum herum.
Der Zuschauerblock, in dem Steven, Zunge, Tom und die anderen Magdeburger Ultras stehen, tobt, als die Mannschaften aufs Feld kommen. Raketen fliegen auf den Platz, die Magdeburger verschwinden im dichten Rauch der bengalischen Feuer. Die Polizisten, die an beiden Seiten des Gästeblocks wie eine grüne Wand stehen, können kaum erkennen, was einzelne Fans machen. Kurz darauf stürmen die gepanzerten Beamten die Stehplatzreihen, sprühen Pfefferspray und zerren die Raketenschützen aus der Masse. „Zick-Zack-Bullenpack“ gellt es den Polizisten hundertfach entgegen, dann haben sie sich in die Mitte der Fans gedrängt. Das Regionalligaspiel kann angepfiffen werden.
Bei Fußballspielen in den unteren deutschen Ligen stoßen jedes Wochenende Welten aufeinander. Polizei und Ordner, die für Sicherheit auf den Rängen sorgen sollen, auf der anderen Seite Fans, denen die wilde, ungezügelte Stimmung im Stadion und die Konfrontation mit dem Gegner über alles geht. Woche für Woche bewegt sich der Fußball auf einem schmalen Grat zwischen Stimmung und Chaos, Euphorie und Gewalt.
Die Schuld dafür wird meist bei den Ultras gesucht. Ultra steht nicht für ultra-gewalttätig oder ultra-rassistisch. Es handelt sich vielmehr um meist junge Männer, für die Fußball mehr ist als 90 Minuten am Samstagnachmittag. Für die er eine Religion ist.
In dieser Religion sind Fußballspiele Gottesdienste, zu denen Leuchtraketen und bengalische Feuer gehören wie Weihrauch zu einem katholischen Hochamt. Steven, Zunge und Tom, Mitglieder der beiden Magdeburger Ultra-Gruppen Blue Generation und Commando East Side, sprechen noch Wochen später von jenem Spiel im November bei Union. „Ein Auswärtssieg, 2 : 1 in einem Ostderby, unter Flutlicht – nahezu perfekt“, sagt Zunge, er ist 26. Ein paar Raketen waren inmitten von Union-Fans eingeschlagen. „Ein Betriebsunfall“, sagt der 20-Jährige, der sich Steven nennt. Ihre richtigen Namen wollen die drei nicht in der Zeitung lesen, fotografiert werden erst recht nicht. Dem Gespräch haben sie erst nach langem Zögern zugestimmt.
Nicht nur die Magdeburger Ultras fühlen sich verfolgt, von der Polizei, von den Vereinen, von den Medien. Der ostdeutsche Fußball steht zurzeit unter dem Generalverdacht, ein Sammelbecken für Chaoten zu sein, die sich Schlachten mit der Polizei liefern, mit Fäkalien gefüllte Ballons auf gegnerische Fans werfen, Affenlaute von sich geben, „Juden Berlin“ skandieren.
Der Fanforscher Gunter A. Pilz hat den Begriff „Hooltra“ für eine Vermischung zweier Fanszenen geprägt: die der fußballfanatischen Ultras und der gewaltsuchenden Hooligans. Die drei Magdeburger verdrehen die Augen, wenn sie das hören, gewalttätig seien sie nicht. Fußball hat aber immer auch mit Rivalität zu tun, mit Provokation. Wer im Feindesland auf dem Weg zum Bahnhof „Scheiß Union“ und „Köpenicker Kinderficker“ schreit oder nur neben einem Schreihals steht, der rechnet auch mit den Konsequenzen.
Steven fängt gerade mit dem Studium an, auch Tom ist Student, Zunge ist Handwerker. Tom und Zunge sind seit mehr als zehn Jahren „Allesfahrer“. Das heißt, sie sehen jedes Spiel ihres Vereins, egal wo, egal wann. Steven hat auch schon im Sommertrainingslager neben dem Platz gezeltet.
„Wir sind nicht Fans des Vereins“, sagt Steven, „wir sind der Verein.“ In wochenlanger Arbeit bastelt er mit dem harten Kern der Ultras an Spruchbändern und Zaunfahnen. Mit Papptafeln oder Stoffbahnen verwandeln sie die Fankurve in ein Farbenmeer. Immer neue Ideen müssen her, neue Klatschrhythmen, neue Lieder. Darüber zerbrechen sich Ultras den Kopf, jeden Tag. „Wie die Kurve sich entwickelt, so entwickelt man sich auch persönlich“, sagt Tom. Er spricht über die Kurve wie über sein Lebenswerk. „Wenn uns die anderen in unserem Stadion niederbrüllen, gehe ich gebrochen nach Hause“, sagt Steven. Vor großen Spielen schläft er kaum.
Beim Spiel gegen Union peitscht Tom die Fans mit einem Megafon an, vom Spiel bekommt er fast gar nichts mit. Im Minutentakt stimmt er neue Gesänge an. Die Polizisten sind immer noch da, ein grünes Band mit großen weißen Köpfen und sehr breiten Schultern zieht sich durch den Block.
Doch was eigentlich die Situation kontrollieren soll, heizt sie weiter an. Glaubt zumindest Titus Simon, Fan-Experte und Professor für Jugendarbeit an der Fachhochschule Magdeburg-Stendal. „Die Fanblöcke sind wie Käfige, Fans werden eingesperrt und beobachtet wie Tiere“, sagt Simon, „das ist ein sozialer Vorgang, der etwas auslöst.“ Das Gefühl, bedrängt und verfolgt zu werden, schweißt zusammen. Dazu kommt, dass es immer einen Gegner gibt, das brauchen viele als Selbstbestätigung. „Der Gegner ist für Gewalt- und Hassprojektionen natürlich wichtig, ohne den Feind bist du nicht identifiziert“, sagt Simon. Oft versuchen Fans, von der Polizei festgenommene Kameraden zu befreien, Tumulte brechen aus.
Aus Sicht der Ultras hat die Polizei in ihrem Block sowieso nichts verloren. „Der Block ist doch ein Hochsicherheitstrakt, alles abgesperrt, Zäune, Videokameras. Trotzdem kommt die Polizei rein und zieht Leute raus. Dadurch wird es doch erst gefährlich.“ Steven spuckt die Worte abfällig aus. „Die provozieren eine Reaktion und ziehen die raus, die reagieren.“ Fan-Experten der Polizei werfen Ultras eine verzerrte Wahrnehmung vor, die eigenes Fehlverhalten ausblendet.
„Niemand, der klar denken kann, legt sich mit 100 bewaffneten und gepanzerten Polizisten an“, sagt Steven. Auf der Internetseite der Ultras klingt das so: „Neben einem gesunden Geist legen wir auch Wert auf ein gesundes Körperbewusstsein, was im Verteidigungsfalle nur von Vorteil sein kann.“
Nicht immer tritt dieser Fall ein. Beim Spiel in Berlin-Köpenick liegt Magdeburg inzwischen in Führung, die Fans sehnen den Abpfiff herbei und interessieren sich nicht mehr für die Polizei. Nur ein Betrunkener redet immer noch auf einen genervten Polizisten ein. Auch diese Szene wird gefilmt, kaum etwas wird so gut dokumentiert wie ein Fußballspiel in der Regionalliga. Die Fans filmen mit Handys und Fotoapparaten zurück.
Deren Bilder landen oft noch am selben Tag im Internet. 18 Videos gibt es von diesem Spiel, der Film „Flammendes Inferno“ ist mit bisher 2800 Klicks einer der beliebtesten. Der Begleittext schwärmt vom Feuerwerk vor Spielbeginn: „Von der Qualität her das beste, was die Regionalliga in Deutschland zu bieten hat. Strafbar ist es allemal – aber ein Augenschmaus der Extraklasse auch.“
Vereine sollen auf Raketen und Feuer mit Stadionverboten reagieren. Nicht immer werden diese auch durchgesetzt. „Wer aber vorsätzlich versucht, andere zu schädigen, den bestrafen wir“, sagt Bernd Hofmann, Magdeburgs Manager. Auf seinem Schreibtisch in der Geschäftsstelle stapeln sich Baupläne des neuen Stadions. Am Wochenende wird es eingeweiht, es gibt noch viel zu tun. Die Ultras sind nicht glücklich mit dem Neubau: keine Stehplätze hinter dem Tor, kein Platz, um große Plakate und Fahnen anzubringen. Hofmann muss los, zum Gespräch mit dem Vertreter der Baufirma. Vorher erklärt er noch, wie gut der Verein mit den Ultras zusammenarbeitet und wie viel Spaß ihm die Fanarbeit macht.
Die Ultras sind nicht die Fans, die sich die Verantwortlichen im Fußball wünschen. Fifa-Chef Joseph Blatter schlug kürzlich vor, Stehplätze grundsätzlich abzuschaffen. Gestern tagte zum ersten Mal die DFB-„Task Force“ gegen Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. „Die wollen einen klinisch sauberen Fan“, sagt Tom.
Als der DFB im Oktober eine Aktion gegen Rassismus startete und 750 000 Rote Karten in den Stadien verteilte, entrollten die Magdeburger Ultras vor dem Anpfiff eines Spiels ein riesiges Transparent: „Rote Karte für Alibiaktion – soziale Fanarbeit statt Sicherheitswahn“. Die Magdeburger Offiziellen waren entsetzt. „Wir sind gegen Rassismus im Stadion“, sagt Tom, „wir lassen uns aber nicht vorschreiben, wann wir das zeigen sollen.“
Die Meinung der Verbandsoffiziellen gilt nicht viel bei den Ultras, sie verstehen sich selbst als das Wichtigste am Fußball. „Der Vorstand sind ja nur Leute, die kommen und gehen, auch viele Spieler sind nach dem nächsten Abstieg schnell wieder weg“, sagt Steven. „Ich bleibe ja für immer“, sagt er noch.