Fußball-Ausschreitungen
ln Handschellen auf den Rasen
Nach dem WM-Halbfinale gegen Argentinien wird die chilenische U-20-Nationalmannschaft von der kanadischen Polizei geprügelt und zum Großteil verhaftet.
Von Javier Cáceres
In ihrem aufopferungsvollen Kampf um globale Aufmerksamkeit haben chilenische Fußballnationalmannschaften ein seltsames Faible für skurrile Negativschlagzeilen entwickelt. Unvergessen ist beispielsweise der Auftritt des Torhüters Roberto "El Condor" Rojas, der im September 1989 beim WM-Qualifikationsspiel im Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro simulierte, von einem Feuerwerkskörper abgeschossen worden zu sein und blutüberströmt vom Platz getragen wurde. Wie sich später herausstellte, hatte sich El Condor selbst mit einer feinen Rasierklinge an der Stirn verletzt, was man mit Torwarthandschuhen erst einmal hinkriegen muss. Rojas wurde lebenslang gesperrt und die chilenische Nationalelf, alias "la Roja", für die Dauer von zehn Jahren, also zwei Weltmeisterschaften, ausgeschlossen.
Ein ähnliches Schicksal droht nun der "Rojita", wie die U-20-Nationalmannschaft genannt wird, "der kleinen Roten", denn ihr WM-Halbfinale gegen Argentinien vom Donnerstag in Toronto endete mit einem Eklat. Die Chilenen bekamen doppelt auf die Mütze: Auf dem Platz von den Argentiniern, weil sie durch Tore von Di Mariazu (10.), Claudio Yacob (65.) und Maximiliano Morales (93.) 0:3 verloren. Und neben dem Platz von der kanadischen Polizei, die den Knüppel kreisen ließ. Ein Fifa-Sprecher teilte mit, das ganze chilenische Team sei festgenommen und dann wieder freigelassen worden. Das war freilich übertrieben. Es waren wohl nur 14 Spieler.
"Die Prügel, die sie nie vergessen werden", wie die Zeitung La Cuarta in Santiago titelte, setzte den Schlusspunkt unter ein abenteuerlich gewalttätigen Abend. Nach dem famosen 0:1 (10.) und der roten Karte für die Defensivkraft Gary Medel (15./Tätlichkeit) entglitten den Chilenen die Nerven und der Bundesliga-Schiedsrichter Wolfgang Stark verlor die Kontrolle über die Partie.
"Desaströs", nannte ihn der chilenische Trainer José Sulantay, ebenso die argentinische Zeitung La Nación, aus freilich entgegengesetzter Motivation: "Er hätte noch mehr Chilenen rausstellen müssen." Den roten Karton sah nur noch ein zweiter Chilene, Dagoberto Curimilla, weil er nach Starks Hand gegriffen hatte. Der Groll der Chilenen auf Stark wurde größer, als er ihnen einen Elfmeter nach einem Foul an Arturo Vidal versagte.
In der Summe führte dies dazu, dass ein Flitzer aus dem Publikum Stark an die Schiedsrichter-Wäsche wollte, die chilenischen Spieler ihn auch nach dem Schlusspfiff umringten, und er schließlich von der Polizei eskortiert werden musste, weil ihn die chilenischen Fans so verabschiedeten, wie schlechte Schiedsrichter in der südamerikanischen Heimat verabschiedet werden: mit dem Wunsch, er solle sich wieder in den Schoß seiner Mutter schleichen, und einem Hagel aus Flaschen und anderen Gegenständen. Stark rannte. Wie es dann aber nach dem Gang unter die Dusche zu der Gewaltorgie der Polizei kam, war am Freitag nicht abschließend geklärt.
» Es war ein Massaker. «
Nicolás Larrondo, chilenischer U20-Nationalspieler
Auch wenn die Dinge völlig anders liegen, so war es doch der zweite schwere disziplinarische Zwischenfall um eine chilenische Elf auf Auslandsreise binnen zwei Wochen. Jüngst war die Erwachsenen-Elf bei der Südamerika-Meisterschaft vorrangig durch Alkohol-Exzesse, Belästigung von Kellnerinnen und ein 1:6 im Viertelfinale gegen Brasilien aufgefallen. Die Rojita galt bis zum Donnerstag als Gegenmodell dieser Elf - und wird auch jetzt noch verteidigt. Denn im Grunde gelten die Chilenen auf ihrem Kontinent als zurückhaltend, wohlerzogen und höflich. Dass sich die Rojita auf dem Platz daneben benahm, wird im Land als Teil der Folklore gewertet, die das Verhältnis mit dem Erzrivalen Argentinien als permanent strapaziert darstellt. Was nach Abpfiff geschah, geht, glauben die Chilenen, auf das Konto der Sicherheitskräfte von Toronto.
In Korrespondentenberichten heißt es, Cristián Suárez sei aus dem Mannschaftsbus herausgetreten, um Anhängern Autogramme zu geben, die hinter einer Absperrung warteten. Die Sicherheitsbeamten untersagten dies, weil es kein Spielerbereich sei, bis ein Wort das andere gab - und Suárez eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht bekam. Als mehrere Kicker im zu Hilfe eilen wollten, prügelte die Polizei los, als sei die Rojita nicht Teilnehmerin einer Fußball-U-20-WM, sondern der schwarze Block beim G-8-Gipfel. Mehrere chilenische Spieler sowie Mitglieder des Betreuerstabs wurden in Handschellen ins Stadioninnere zurückgeführt, stundenlang festgehalten und offenbar ebenfalls geschlagen. Derweil flog draußen mindestens eine Tränengasgranate in den chilenischen Mannschaftsbus; in Panik zerschlugen die Insassen die Scheiben von innen. "Es war ein Massaker", sagte Nicolás Larrondo.
Kurz vor zwei Uhr morgens trat Außenminister Alejandro Foxley im chilenischen Fernsehen TVN auf und kündigte eine Protestnote an die kanadische Regierung an. "Wir verlangen eine Erklärung, wie es zu dieser Überreaktion kommen konnte", sagte er. Auf die Spieler wartet derweil zu Hause die Chefin. Noch vor dem Krawall von Toronto hatte Michelle Bachelet das Team bereits in den Präsidentenpalast La Moneda eingeladen. Für erste Hilfe ist so gesorgt. Präsidentin Bachelet ist Medizinerin.