Mit der Miliz aufs Männerklo
Nur 35 Leverkusener kamen zum UEFA-Cup Viertelfinale nach St. Petersburg
MDZ 2008-04-18 Autor: Thomas Körbel
Gegen 21 000 Petersburger konnten sie nicht anschreien: 35 Leverkusener Fußballfans reisten zum UEFA-Cup-Viertelfinale gegen Zenit St. Petersburg. Es war der harte Kern der Fangemeinde, diejenigen, die kaum ein Spiel von Bayer 04 verpassen. In der Newa-Metropole erlebten sie ihren wohl größten Polizeieinsatz.
Wenn sich Malermeister Hans-Jürgen Ungermann am Wochenende in Schale wirft, dann wird aus dem hochgewachsenen Mitfünfziger ein rot-schwarz gestreifter Fußballhüne. Jede Woche steht er im Stadion, egal in welcher Stadt. Bereit für die Schlacht, postiert er sich diesmal mit einer riesigen Fahne vor dem Hotel „Moskau“ in St. Petersburg, während Passanten ihm verdutzte Blicke zuwerfen. Unter seiner roten Bayer 04 Leverkusen-Schirmmütze lugt mittellanges, grau meliertes Haar hervor. Fanschals baumeln an seinem Gürtel wie Skalps an einer Indianertracht. Er trägt das Trikot seiner Mannschaft. „Das ist ein Original“, verkündet er stolz mit rheinischem Zungenschlag. „Das habe ich vom Rolfes beim Spiel in Leiria bekommen.“
In einem der bequemen Leder-sessel im Foyer sitzt Frank Linde, sein Handy klingelt: „Viel Spaß im Stadion. Lasst euch nicht ausrauben!“, lautet die SMS. „Die Verwandten zu Hause sind alle ganz besorgt“, sagt „Franky“. Der Name steht dick auf seinem Pullover. Er hat die Tour der Leverkusener Fans nach Russland organisiert. Als der 1. FC Nürnberg vergangenen November in St. Petersburg gespielt hat, sind die deutschen Fans im Stadion von Zenit-Anhängern skrupellos ausgeplündert worden. Die Leverkusener sehen es gelassen, sind sich aber der potenziellen Gefahr bewusst. „Wenn wir es hier schaffen, dann gibt’s Theater“, glaubt Fahnenschwenker Ungermann. Doch von einem Sieg wagt niemand zu träumen. Mit vier Toren zu Null müsste Bayer gewinnen, um die nächste Runde zu erreichen.
Die Reise ins Stadion beginnt. Mit dem Martinshorn der Polizeieskorte dauert die Fahrt mit dem Bus trotz Abendverkehr nur wenige Minuten. „Ach du Scheiße!“ ruft einer aufgeregt. Am Ufer der Newa hat sich ein Begrüßungskomitee der Polizei voller Montur postiert. Der Fahrer lässt die Beamten links liegen und steuert auf den Hintereingang zu. Ein kurzer Stopp. Ein Hund springt in den Bus und schnüffelt sich durch die Reihen, gefolgt von einem Milizionär. Sie suchen nach Sprengstoff, reine Routine, sagt der Milizionär. Doch das ist erst der Anfang.
Der Bus steuert direkt vor den Fanblock. Dann die Überraschung auf der Tribüne: Eine Hundertschaft Milizionäre in voller Rüstung, mit Helm und Brustpanzer, erwartet die Deutschen. Die Ansagen sind klar: „Wer auf die Toilette muss, sagt Michail, dem smarten Einsatzleiter mit Fellmütze bescheid, in der Halbzeitpause bleiben wir alle auf den Plätzen, damit es zu keiner Vermischung kommt, und nach dem Spiel verlassen wir als letzte das Stadion“, gibt Franky die Anweisungen der Beamten weiter.
„Wenn ich das meinen Kumpels zu Hause erzähle. Da gehen zwei Mann mit, wenn du pissen musst“, schüttelt Udo Ruckert den Kopf. Der braungebrannte Mann mit dem Indiana Jones-Gesicht ist empört über die strengen Sicherheitsmaßnahmen.
Auch die jüngeren Fans sind beeindruckt von so viel Sicherheitsmaßnahmen. „So übertrieben war es noch nie“, meint Sebastian Pöschke. Der Mathematikstudent und sein Kum-pel Carsten Nell „sammeln“ Stadien. Pöschke hat schon 110 Arenen in 20 Ländern besucht. Beide sind „Ultras“ und fallen damit aus dem Rahmen der kleinen Besuchergruppe. Ultras sind organisierte Fans, die sich für ein einheitliches Auftreten der Anhänger im Stadion einsetzen. Manchmal kommt es auch zu gewaltsamen Zusammenstößen mit dem Gegner. „Gestern haben wir uns mit Zenit-Fans in einer Pizzeria unterhalten, haben ihnen aber lieber nicht gesagt, dass wir Ultras sind“, erzählt Pöschke. Für solche Situationen hat er immer eine Hand voll Leverkusen-Sticker zum Verschenken dabei. Ihr Ultraoutfit haben sie zu Hause gelassen. „Das sind immer willkommene Trophäen für andere Ultras“, sagt er.
Die Russen rundherum finden das Polizeiaufgebot hingegen gar nicht übertrieben. „Das ist wichtig, nicht alle Zenitfans können einfach nur ein Spiel genießen“, sagt Sergej Martynow. Früher habe es so etwas nicht gegeben, meint Vera Bosnewa. Woran es heute liege, kann sie nicht erklären. „Vielleicht ist es einfach eine andere Generation, die Leute sind weniger gebildet.“
Doch mit dem Polizeiaufgebot gibt es keinen Grund zur Sorge. Die Beamten lassen anfangs nicht einmal einfache Gespräche zwischen Russen und Deutschen zu. „Es ist echt schade, dass die Miliz so unflexibel ist“, findet Frank Linde. Später lockert sich das strenge Regiment jedoch. Schals wechseln den Besitzer und einige Milizionäre nehmen Kontakt zu deutschen Fans auf.
Einer hat ein Auge auf Peggy Schürmann geworfen. Die junge Versicherungsangestellte bekommt zum Ende des Spiels plötzlich einen grünen Notizblock zugeschoben. „Wie heißt du? Schreiben!“, will einer der Helmträger von ihr wissen. Sie tauschen Telefonnummern. Als Fans und Miliz nach dem Spiel gemeinsam das Stadion verlassen, reißt sich der junge Beamte mit Manneskraft sein Abzeichen vom Ärmel, flammt schnell die gröbsten Fransen mit einem Feuerzeug ab und gibt es Peggy als Andenken. Anrufen wird sie ihn wahrscheinlich trotzdem nicht. Vielleicht schließt der Milizionär auch einfach eine neue Bekanntschaft mit einer jungen Bayern-Anhängerin – wenn die Münchner zum Halbfinale am 1. Mai an die Newa kommen.
Quelle: Deutsche Moskauer Zeitung