Ein Schmuddelkind namens "Werkself"

  • Sportgeschichte, 15.06.2008, Andreas Ernst


    161.336 Einwohner und kein Hauptbahnhof. "Leverkusen-Mitte" ist nur eine kleine Bahnstation zwischen Düsseldorf und Köln. Diverse Deutschland-Reiseführer widmen der Stadt nur wenige Zeilen. Und doch ist Leverkusen weltberühmt. Wegen eines Konzerns. Und eines Sportvereins.


    Hunderttausende Fußballfans aus ganz Europa kennen diesen Blick. Autobahnkreuz Leverkusen, von der A1 geht's auf die A3 oder umgekehrt. Dieses Stadion ist nicht zu übersehen. Dieses Stadion, genannt "BayArena". Wer in "Leverkusen-Mitte" aus dem Zug aussteigt, kann Richtung Stadtmitte gehen. Aber wer will das schon. Die meisten nehmen den Ausgang zum "Sportpark". Bayer Leverkusen ist der von vielen ungeliebte "Werksklub". Doch diesen Verein nur auf die Fußballprofis zu beschränken - wäre das fair?


    1891 verlegte die Bayer AG ihren Sitz nach Leverkusen. Die Stadt war damals noch keine, sondern vielmehr nur ein etwas größeres Dorf. Was sind schon 2500 Einwohner!? Doch von Monat zu Monat stiegen Arbeiter- und Einwohnerzahl - auf knapp 10.000 im Jahr 1903. Die Bayer AG gründete einen Betriebssportverein unter dem Namen Turn- und Spielverein Bayer 04. Erster Vorsitzende wurde Major a. D. Albert Mandel. Der Verein wuchs und wuchs, eine Sportart nach der anderen landete auf der Angebotsliste. Zum Beispiel ab 31. Mai 1907 Fußball. Turner und Vertreter anderer Sportarten waren damals verfeindet, nicht nur in Leverkusen, sondern in ganz Deutschland. Fußballer, Handballer, Leichtathleten, Boxer und Faustballer spalteten sich am 8. Juni 1928 ab und gründeten die Sportvereinigung Bayer 04. Für die Turner gab es den den TuS 04. Erst 1984 wurde daraus wieder ein gemeinsamer Klub.


    Bayer Leverkusen - nur ein Betriebssportverein?


    Zu Beginn ja. Die Fußballer spielten in den Zwanziger- und Dreißigerjahren in der dritten und vierten Liga. Auch die anderen Abteilungen orientierten sich eher im Breitensport. Das änderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Bayer-Konzern sein finanzielles Engagement sukzessive ausbaute. Alle Abteilungen erhielten eine finanzielle Sicherheit, die jeder Vereinsvorsitzende in ganz Deutschland gern hätte. Deutschlands Sportszene begann ein Hassliebe zum rot-schwarzen Schmuddelkind vom Rhein: Ein "Plastikklub" ohne Tradition? Ohne Fanbasis? Ein Verein, der ohne den Hauptsponsor nichts wäre!? Und wieder die Frage: Ist diese Sichtweise fair?


    Schon sehr schnell ist klar: Natürlich kann Bayer 04 Leverkusen ohne den mächtigen Hauptsponsor nicht existieren. Aber die komplette deutsche Sportszene ist ohne Bayer Leverkusen nicht denkbar. In mehreren Sportarten arbeiten sich die Leverkusener ganz nach oben.


    Beispiele?


    Im Basketball ist Bayer, später unter dem Namen Bayer Giants, Spitze in Deutschland, jahrelang. Der Aufstieg gelingt 1968, danach folgen 14 nationale Meistertitel zwischen 1970 bis 1996 und zehn Pokalsiege. Die Wilhelm-Dopatka-Halle steht in dieser Zeit wie keine andere Arena für deutsches Basketball, Bayer 04 glänzt zudem mit einer hervorragenden Nachwuchsarbeit. Henning Harnisch, Hansi Gnad, Michael Koch, Dennis Wucherer, ja sogar Detlef Schrempf. Und als Trainer jahrelang Dirk Bauermann. Basketball in Deutschland ohne Bayer - unvorstellbar.


    Nahezu genauso lang zählten Bayers Boxer zur deutschen Spitze. Seit 1971 gehörten sie der 1. Bundesliga an, holten zwischen 1978 und 2002 achtmal den Titel. Vier Leverkusener Boxer gewinnen Medaillen bei Olympischen Spielen. Kurzzeitig tragen auch René Weller und Dariusz Michalczewski das Bayer-Kreuz auf dem Dress.


    Die zwei "B"s, Boxen und Basketball, sind nicht alles. Die Behindertensport-Abteilung, 1950 gegründet, ist sehr erfolgreich - mit bereits 20 Goldmedaillen bei Paralympics. Die Faustballer gewannen 1985 und 1986 den Europapokal, die Degen-Fechter zählen zur nationalen Spitze. Im Frauen-Handball gab Bayer 04 Leverkusen von 1965 bis 1987 den Ton an: zwölf Meistertitel. Drei Meisterschaften fuhr die Herren-Volleyballmannschaft ein: 1979, 1989, 1990.


    Es fehlen noch zwei Aushängeschilder. Natürlich: die Leichtathleten. Erster Olympiasieger wurde Willi Holdorf, der 1964 in Tokio Gold im Zehnkampf holte. Heide Rosendahl ließ 1972 in München Gold im Weitsprung und in der 4x400-Meter-Staffel folgen. Ulrike Meyfahrt sprang 1972 in München und 1984 in Los Angeles so hoch wie niemand sonst und holte gleich zweimal Gold. Dieter Baumann (5000 Meter) und Heike Henkel (Hochsprung), Gold-Sportler aus Barcelona 1992, starteten für Bayer 04 Leverkusen. Erstaunlich, was? Bei den letzten Olympischen Spielen 2004 in Athen stand Speerwerferin Steffi Nerius auf dem Treppchen - mit der Silbermedaille um den Hals. Derzeitige Aushängeschilder sind außer Steffi Nerius die Stabhochspringer Lars Börgeling und Danny Ecker.


    So viele Sportarten, so viel Nachwuchsförderung. Ist es fair, dass trotz allem der Verein Bayer Leverkusen in der breiten Öffentlichkeit nur mit der Profifußball-Mannschaft in Verbindung gebracht wird? Zwischen 1956 und 1958 entstand die Spielstätte für das Fußballteam, genannt Ulrich-Haberland-Stadion. 1963 folgte eine Flutlichtanlage, 1986 eine komplette Überdachung. Seit 1999 heißt das Stadion "BayArena", bietet 22.500 Besuchern Platz, hat ein Hotel hinter der Nord- und ein McDonalds hinter der Gegentribüne. Ab sofort ist die BayArena wieder eine Baustelle. Bis 2009 wird die Kapazität auf 30.000 Plätze angehoben.


    1951 gehörten Bayers Fußballer erstmals der höchsten Spielklasse an - der Oberliga West. Die Stadt ist noch vergleichsweise jung. Aber Vorwürfe, die Fußballabteilung hätte keine Tradition und Fanbasis, sind teilweise falsch. Fanbasis nein, aber Tradition: ja. Weil aber andere Vereine wie Schalke 04, der 1. FC Köln, Borussia Dortmund und der MSV Duisburg in der Vorkriegszeit erfolgreicher spielten, bleibt Bayer ein Platz in der neu geschaffenen 1. Bundesliga 1963 verwehrt. Bayer wird in die Regionalliga West eingestuft, damals die zweite Klasse. Nach langen Jahren in der Regionalliga und der 2. Bundesliga folgte erst 1979 der Sprung in die Erstklassigkeit. Nach langen Jahren des Wartens.


    Bayer Leverkusen bringt Typen hervor, will nur eins: in die Schlagzeilen. Und schafft es dennoch nie in die Herzen der Fußballfans. Mit Reiner "Calli" Calmund bringt die "Werkself" eine der verrücktesten (und fülligsten) Figuren der Bundesligageschichte hervor. "Calli" weiß auch Jahre nach seiner Demission noch Talkshows und Expertenrunden spielend zu unterhalten. "Calli" will nur eins: Den Zirkus an den Rhein holen. Als Spieler kommen Bernd Schuster, Rudi Völler, Tita, Ulf Kirsten, Lucio, Michael Ballack, Bernd Schneider und, und, und. Trainer werden Dragoslav Stepanovic, Christoph Daum, Klaus Toppmöller und, und, und. In der "Ewigen Tabelle" der Bundesliga steht Bayer inzwischen auf dem elften Platz. Trotz aller finanziellen Anstrengungen reicht es aber in den 29 Jahren seit dem Bundesliga-Aufstieg nur zu zwei Titeln: Bayer holt den UEFA-Cup 1988 und den DFB-Pokal 1993. Wird aber viermal Zweiter in der Bundesliga und scheitert jeweils einmal im Endspiel des DFB-Pokals und im Finale der Champions League. "Ihr werdet nie deutscher Meister" ist der beliebteste Sprechchor im Repertoire der Fußballfans, wenn Bayer Leverkusen kommt.



    Heute feiert Bayer 04 Leverkusen seinen 104. Geburtstag. Der Verein befindet sich in einem Wandel. Die Konzernspitze hat die Ausgaben für den Sport in den vergangenen Jahren drastisch gesenkt. 1995 strich Bayer die Zuwendungen für den Krefelder Verein Bayer Uerdingen. Mit heftigen Folgen: Als KFC Uerdingen ist der Klub, damals Bundesliga, nun nur noch Sechstligist. Die Leverkusener Profifußballer haben trotz des Sportdirektors Rudi Völler den Anschluss zur Tabellenspitze verloren, konnten sich in der abgelaufenen Saison nicht mehr fürs internationale Geschäft qualifizieren. Die 1,5 Millionen Euro für die Basketball-Abteilung will Bayer nicht mehr aufbringen. Die bittere Folge: kein Erstliga-Basketball mehr in Leverkusen ab der kommenden Saison. Die Boxer sind schon lange nicht mehr ganz oben. In der nationalen Spitze bleiben werden außer den Profifußballern nur die Leichtathleten.


    161.336 Einwohner, kein Hauptbahnhof, keine besonders schmucke Innenstadt, keine Sehenswürdigkeiten.


    Aber ein Chemiekonzern.


    Und ein Sportverein.


    Trotz aller Unpopularität, trotz aller Vorurteile: Bayer, Leverkusen und Bayer Leverkusen sind noch da. Der Klub spielte in seinem langen Leben eine wichtige Rolle in Deutschland. Und er wird auch weiterhin noch gebraucht. Ob es den Sportlern und Fans passt oder nicht. Auch in ferner Zukunft werden die Autofahrer der A1 und A3 am Autobahnkreuz Leverkusen sehen: Die Werkself lebt noch.


    www.derwesten.de