2.9.2008: Um 14 Uhr sind wir mit Rudi Völler zum Interview verabredet. Doch an der BayArena ist nichts wie früher. Die Geschäftsstelle scheint verschwunden, die Spieler sehen aus wie Minenarbeiter. Nur Völler, der ist wie immer.
Es hat angefangen zu nieseln und wir fahren durch die nassgrauen Straßen von Leverkusen. Die Taxifahrerin weiß nicht genau, wo es hingeht. »Das ist ja alles neu hier«, sagt sie, schaut in den Rückspiegel, dann über die Schulter und zu Tim Jürgens, der auf dem Beifahrersitz ebenso ratlos über die Schulter blickt. Wir lassen die BayArena links liegen. Jürgens’ Hand fährt durch die Luft, zeigt in verschiedene Richtungen. »War die Geschäftstelle nicht mal da hinten?« Doch da hinten steht nur ein Gerüst. »Ja, ich glaube auch.« Wir wenden. Wasser prasselt auf die Scheiben. »Ach, lassen Sie uns einfach mal hier raus. Wir werden es schon finden.« Wir hoffen es zumindest. Hier im Regen. Hier unter der halbfertigen Tribüne der neuen BayArena.
Wir sind tatsächlich richtig. Simon Rolfes, René Adler, Gonzalo Castro, die uns von den riesigen Plakaten rund um die Baustelle BayArena grüßen, weisen uns den Weg. Und als wir das Restaurant der Geschäftsstelle betreten, grüßt auch Bernd Schneider. Seine Finger fahren über einen Stapel Papiere, geschäftig, er nippt an seinem Wasserglas. Rudi Völler sitzt drei Tische weiter, auch geschäftig, doch vor allem: gut gelaunt. Ein kurzes »Hallo« in die Runde, wir wollen nicht stören, sind etwas zu früh. Rudi Völler nickt: »Wir treffen uns gleich in der Adidas-Lounge.« Dann lächelt er und nippt am Kaffee. Dieses Rudi-Lächeln. Wir fühlen uns wohl, irgendwie zu Hause, dort im gedeckten Esszimmer der großen Bayer-Familie. Im Fahrstuhl sagt Tim Jürgens: »Das wird gut.«
In der Adidas-Lounge warten die 11Freunde-Fotografin Andrea Borowski und ihre Assistentin. »Ich habe mal gelesen«, sagt Tim Jürgens, »dass Rudi Völler es nicht sonderlich mag, fotografiert zu werden.« Andrea schraubt an der Kamera herum. »Nun«, antwortet sie, »es liegt an euch, dass er nach dem Gespräch noch gute Laune hat.« Dann schenken wir uns Wasser ein, knabbern uns durch den bunten Plätzchenteller, blättern im Stadionmagazin und versuchen wichtig und weltmännisch auf den Rasen zu schauen. So wie die Senior-Product-Manager von Adidas. Am Ende sehen wir doch nur aus wie Tim Jürgens und Andreas Bock.
Ein paar Kräne überragen die Tribünen, sie sind nach oben offen, das Dach fehlt, die BayArena bekommt für einen Augenblick den Charme eines südamerikanischen Fußballstadions. Doch die bengalischen Feuer brennen nicht, die Papierrollen fliegen nicht über die Ränge, die Sonne glüht nicht auf den Rasen. Es regnet immer noch, und an der Seitenlinie eilt Bayer-Pressesprecher Uli Dost entlang. Es gibt viel zu tun.
In einem Wandständer stehen fein säuberlich aufgereiht die Autogrammkarten der aktuellen Bayer-Spieler. Die Vorderseite zeigt sie im Trikot, auf der Rückseite posieren sie mit Hammer und Schutzhelm, im Gesicht sind sie mit Ruß beschmiert, wie Arbeiter, die ihr halbes Leben unter Tage verbracht haben. Stellt man sie nebeneinander, sehen sie aus wie die »Village People«. Ich stecke eine Karte, die von Arturo Vidal, für meinen Kollegen Dirk Gieselmann ein. Er wird später sagen: »Schön. Spielt die Karte die Melodie von ›YMCA‹, wenn ich sie schüttele?«
Rudi Völler trägt schwarzes Sakko und blaues Hemd. Der Bart ist noch dort, wo er immer war, das Haar grau wie seit 20 Jahren. Es ist der Rudi aus unseren Bildern, der 1983 Bundesliga-Torschützenkönig wurde, der 1990 den Weltmeisterpokal in den Himmel von Rom streckte, der 1993 die Champions League mit Olympique Marseille gewann und der Ruuudi, der 2002 plötzlich im Endspiel von Yokohama stand und an der Seitenlinie machtlos zusehen musste, wie Oliver Kahn den größten Fehler seiner Nationalmannschaftskarriere machte – den einzigen.
Wir blicken gemeinsam auf die Kräne über der Nordtribüne, auf die Stahlträger, auf das Stadion im Werden. Völler erinnert sich an seine ersten Jahre, an die ersten Auswärtsspiele im Ulrich-Haberland-Stadion. »Früher«, sagt er, »da wirkte alles ein bisschen grau. Fast leblos.« Nun schaut er schon ein bisschen stolz – obgleich niemals wichtig, niemals unnahbar, niemals so wie es ein Manager vielleicht tun müsste. Völler guckt einfach wie Rudi. Und während er auf den Rasen blickt, verweist er stets auf das ganze Gebilde, auf den einen Strang, an dem sie alle und gemeinsam ziehen. Dann zeigt Völler auf die Wand mit den Karten und hält einen Stift mit der Aufschrift »Werkself« hoch. »Das war die beste Idee, die wir bei Bayer je hatten.« Erst in den letzten Jahren begann man in Leverkusen offensiv und kreativ mit dem vermeintlichen Laster, dem Image des »Pillenklubs« umzugehen. Heute ist das Bayer-Kreuz sogar bei den Fans Kult.
Rudi Völler redet besonnen. Nur einmal, als wir über Trends und Veränderungen sprechen, hebt sich seine Stimme und auch sein Zeigefinger. »Wir verändern in Leverkusen niemals nur um den Verändernswillen«, sagt Völler. Dann lehnt er sich wieder zurück. Ganz entspannt blickt er sogar noch einmal auf die Weizenbier-Geschichte zurück, von der bis heute vermutlich häufiger erzählen musste als vom WM-Titel 1990. »Waldi ruft mich jedes Jahr am 6. September an und bedankt sich für den Paulaner-Werbevertrag, den er damals nach dem Island-Spiel bekommen hat.« Wir geraten kurz ins Plauschen, reden über Kinofilme, über Dinge, die nichts mit Fußball zu tun haben, über den privaten Rudi Völler, der sich mit Freunden auch über fußballferne Themen unterhält. Über Gott und die Welt, sagt er. Über Politik zum Beispiel.
Fotografin Andrea Borowski bereitet das Licht vor. Während wir aus der Tür gehen, hören wir Rudi Völler zu ihr sagen: »Wissen Sie, ich rede sehr gerne über Fußball. Das kann ich stundenlang machen.« Als wir uns umdrehen, schmunzelt Völler. »Aber Fototermine, die mag ich nicht so gerne.«
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