Als Rudi Völler 1994 zu Bayer Leverkusen wechselte, war ihm das fast ein wenig peinlich. Heute ist der Club eine Herzensangelegenheit. Im Interview mit dem Fußball-Magazin "11 FREUNDE" spricht Völler über die Wandlung des Vereins, die Tränen des Oliver Neuville und seinen größten Fehler.
Frage: Rudi Völler, am 15. November 1980 spielten Sie als Stürmer von 1860 München zum ersten Mal im Ulrich-Haberland-Stadion. Welche Erinnerungen haben Sie an dieses Auswärtsspiel in Leverkusen?
Rudi Völler: Alles wirkte ein bisschen grau, fast leblos. Vielleicht lag es daran, dass das Leverkusener Stadion in jener Zeit fast immer halbleer war. Nur hier und da verirrten sich ein paar Zuschauer.
Frage: Der "Pillenclub" war alles andere als en vogue.
Völler: Unter einem Firmenlabel wie dem Bayer-Kreuz aufzulaufen war zu dieser Zeit noch recht ungewöhnlich. Als Spieler eines anderen Vereins blickte man mitunter etwas von oben herab auf den Club. Möglich, dass es – ich will nicht sagen peinlich – aber für einige Kicker nicht gerade das Größte war, ausgerechnet für Bayer Leverkusen zu spielen.
Frage: Sie kennen Bayer 04 als Gegen- und Mitspieler, aus der Perspektive des Trainers und nun schon lange als Sportdirektor. Wann fing der Verein an zu glänzen?
Völler: Den konkreten Zeitpunkt weiß ich nicht, es muss irgendwann zur Zeit der Wende gewesen sein. Die Mannschaft holte 1988 den Uefa-Pokal und der Verein verpflichtete Spieler wie Ulf Kirsten, Andreas Thom ...
Frage: ... und 1994 dann auch Sie. Haben Sie es sich damals zweimal überlegen müssen, ob Sie zum "Werksclub" wechseln sollen?
Völler: Nein, überhaupt nicht. Als ich kam, hatte sich schon einiges getan: Bernd Schuster war ein Jahr zuvor von Atletico Madrid geholt worden, der Verein befand sich längst in einer Art Umbruch – es herrschte Aufbruchstimmung.
Frage: Uli Hoeneß sagte einmal über den FC Bayern: "Dieser Verein ist mein Leben." Können Sie diesen Satz auch über Bayer Leverkusen sagen?
Völler: Hätte mir Anfang der 90er jemand gesagt, dass ich hier mit Unterbrechungen 14 Jahre arbeite, hätte ich das wohl nicht geglaubt. Aber heute kann ich überzeugt sagen: Ich fühle mich hier zu Hause.
Frage: Trotzdem übernahmen Sie zwischendurch noch den Job als Teamchef der deutschen Nationalmannschaft und später sogar als Vereinscoach beim AS Rom.
Völler: Dabei hatte ich mir nach dem Abschied vom DFB nach der EM 2004 gesagt: Jetzt mache ich bis Dezember gar nichts mehr. Egal, wer kommt und fragt.
Frage: Und dann ...
Rudi Völler: ... kommt ausgerechnet der Club, zu dem ich einen sehr engen Draht habe, in der Stadt, die ich meine zweite Heimat nenne. Es war eine Herzensangelegenheit – und mein größter Fehler. Als der Roma-Vorstand fragte, ob ich nicht aushelfen könne, wenigstens für ein Jahr, sagte ich zu.
Frage: Schon nach 26 Tagen zogen Sie jedoch die Reißleine.
Völler: Zum Glück. Zum einen gab es ein paar Querelen im Verein, zum anderen merkte ich, wie leer ich war. Ich war ausgepowert, platt. Es war einfach ein Fehler, nach so kurzer Zeit wieder in den Trainerjob einzusteigen.
Frage: Wie nahe geht es Ihnen, sich von verdienten Spielern trennen zu müssen?
Völler: Wirklich wehgetan hat es mir bei großen Spielern bisher nur, wenn deren Verträge ausliefen und sie unbedingt weg wollten, etwa bei Michael Ballack, bei Lucio oder Zé Roberto.
Frage: Fiel es Ihnen nie schwer, jemanden vor den Kopf zu stoßen?
Völler: Als Coach der Nationalmannschaft war es schon schlimm, Oliver Neuville im Frühjahr 2004 sagen zu müssen, dass er nicht mit zu EM nach Portugal fliegt. Dabei hatte ich es ihm ein halbes Jahr zuvor versprochen. Doch in der Rückrunde trumpfte Lukas Podolski derart auf, dass ich nicht mehr an ihm vorbei konnte.
Frage: Wie lief das Gespräch mit Neuville ab?
Völler: Ich hatte damals noch ein Büro in der Bayer-Geschäftsstelle und bestellte Oliver hierher. Es war natürlich ein großer Schock für ihn. Er war den Tränen nah.
Frage: Nimmt man einen Spieler in solchen Momenten in den Arm?
Völler: Vor allem einen wie Oliver Neuville. Schließlich hatte ich ihn mit Reiner Calmund von Hansa Rostock nach Leverkusen geholt. Er wohnte nur zehn Minuten von meinem Haus in Leverkusen entfernt. Doch diese unpopulären Entscheidungen gehören nun mal dazu. Und ich bin in der Situation nicht für ihn oder für mich verantwortlich gewesen, sondern für das ganze Gebilde.
Frage: Erinnern Sie sich an einen Augenblick in Ihrer Laufbahn, in dem Sie absolutes Glück empfanden?
Völler: Die sieben Minuten, die im WM-Finale 1990 nach dem verwandelten Elfmeter von Andy Brehme noch zu spielen waren, fühlten sich unbeschreiblich an. Wir wussten, diesen Sieg nimmt uns niemand mehr. Wir wussten: Wir sind Weltmeister. Die Argentinier waren schon durch den Platzverweis dezimiert, die sind gar nicht mehr an den Ball gekommen. Und mit diesem Gefühl haben wir uns locker die Pille zugepasst. Sie wissen ja: Weltmeister bleibt man ein Leben lang.
Frage: Diesen Satz liest man öfter von Ihnen. Der Titel bedeutet Ihnen sehr viel.
Völler: Ab und zu werde ich gefragt: "Schmerzt es Sie eigentlich, dass Sie nie Deutscher Meister geworden sind?" Dann antworte ich: "Wissen Sie was? Ich habe nur die großen und richtig wichtigen Titel geholt: Weltmeisterschaft und Champions League."
Frage: Der Bayer-Konzern unterstützt den Verein zwar nach wie vor großzügig, doch den Etat für Spielergehälter mussten sie in den vergangenen Jahren halbieren.
Völler: Mehr Geld ist besser als weniger, aber trotzdem zahlen wir immer noch überdurchschnittlich gut. Vielleicht sind wir auf der Gehaltstabelle nicht mehr unter den Top 3 der Bundesligisten, aber wie sind immer noch zwischen Platz fünf und neun angesiedelt.
Frage: Wie soll Bayer Leverkusen so international konkurrenzfähig bleiben?
Völler: Das wird zweifelsohne schwierig. Es heißt immer: Geld schießt keine Tore. Aber Geld schießt Tore. Das Endspiel der Champions League hieß nicht zufällig FC Chelsea gegen Manchester United. Dafür aber haben die deutschen Mannschaften im Uefa Cup die englischen überholt. Das beweist, dass die deutschen Clubs in der Breite besser aufgestellt sind und mit geringeren finanziellen Mitteln mehr erzielen. Doch in der Champions League ist der Unterschied bei den finanziellen Möglichkeiten zu gravierend.
Frage: Oligarchen und Scheichs kaufen sich in England Traditionsvereine. Gibt es Entwicklungen im modernen Fußball, bei denen Ihnen mulmig wird?
Völler: Manchmal wird einem schon schwindelig und man denkt, jetzt muss doch das Maximum erreicht sein. Aber dann haut wieder ein Club einen neuen Phantasiebetrag raus. Allerdings finde ich die Entwicklung in der Bundesliga nicht bedenklich, denn hier wird gesund gewirtschaftet. Aber in Italien und Spanien wird Geld ausgegeben, das gar nicht da ist. Und in England sitzen diese unglaublich reichen Oligarchen …
Frage: Können Sie verstehen, warum so unendlich viel Geld in den Fußball gepumpt wird?
Völler: Das wusste schon Sepp Herberger: Der Fußball besitzt so eine Anziehungskraft, weil keiner weiß, wie das Spiel ausgeht. Im Handball wird niemals ein Zweitligist gegen den THW Kiel gewinnen. Da können alle Kieler mit der schwachen Hand werfen, die gewinnen trotzdem. Oder im Basketball: Keine deutsche Bundesligamannschaft wird jemals gegen ein NBA-Team gewinnen. Im Fußball ist es anders: Da kann ein Viertligist im Pokal immer einen Erstligsten rauswerfen.
Frage: Nach dem WM-Halbfinale gegen Frankreich 1986 sollen Sie es ziemlich krachen lassen haben.
Völler: Dazu hatten Felix Magath, Thomas Berthold, Matthias Herget und ich ja auch allen Grund. Wir haben uns nach dem Spiel einfach in Verkleidung in die Hotellobby gesetzt und den Champagner bestellt. Das ging bis in die frühen Morgenstunden, stimmt. Ein tolles Fest.
Frage: Obwohl das Finale erst noch bevorstand.
Völler: Ja, aber es waren noch ein paar Tage Zeit.
Frage: Wegen Ihrer Party ging das Finale 1986 also nicht verloren?
Völler: Nein, wir waren im Endspiel zwar spielerisch weit unterlegen, doch unsere Fitness war besser. Die Argentinier pfiffen aus dem letzten Loch. In der Verlängerung hätten wir das Ding gepackt, da bin ich mir ziemlich sicher.
Frage: Rudi Völler, wenn Sie auf Ihre 32 Jahre als Profi, Trainer und Sportdirektor zurückblicken: Gibt es irgendetwas, was Sie ändern würden?
Völler: Manchmal denke ich an das WM-Finale 2002 zurück. Ich frage mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn Michael Ballack mitgespielt hätte. Mit ihm hätten wir große Chancen gehabt, das Endspiel zu gewinnen.