Weihnachten zur „Mutter aller Derbys“

  • Marius Eversmann und Sebastian Nowak brauchen keine Weihnachtskugeln sondern Lederbälle: In der besinnlichsten Zeit des Jahres hetzen sie in Großbritannien von Fußballspiel zu Fußballspiel.


    Leichlingen - Doch, doch: Heiligabend wollten sie schon noch mitnehmen. Die paar Stunden im Familienkreis mit Plätzchen, Geschenken und Kerzenschein müssen sein. Aber Besinnlichkeit? Ist nicht. Marius Eversmann und Sebastian Nowak sitzen schon Tage vorher auf heißen Kohlen: Am 25. um 19.25 Uhr geht ihr Flieger ins Paradies. Das heißt Großbritannien. Weil auf der Insel „durchgespielt“ wird, wie Mario sagt. Fußball. Bayer 04 (ihr Lieblingsverein) und das Christkind haben Pause. Marius und Sebastian nicht. Die beiden 27-jährigen aus Leichlingen fahren zur besinnlichsten Zeit des Jahres das komplette Alternativprogramm.


    Und das sieht so aus: Am 25. Dezember um 19.35 Uhr Ankunft auf dem Flughafen London-Stansted. Anschließend geht es mit dem Mietwagen ins Trabantenstädtchen Bishop's Stortford zum Übernachten. „Da soll David Beckham manchmal anzutreffen sein“, weiß Marius. Indes: Zeit zum Suchen wird nicht bleiben: Am 26. Dezember ist nämlich früh aufstehen angesagt, weil Marius und Sebastian um 15.30 Uhr schon zum ersten Fußballspiel in Wales sein müssen: Auf dem Programm steht Newtown AFC gegen Caersws FC, erste walisische Liga.


    Direkt nach dem Abpfiff fahren sie weiter Richtung Norden, ins dann noch runde 600 Kilometer entfernte schottische Glasgow, wo die beiden versuchen wollen, am 27. Dezember um 12.30 Uhr in den legendären Ibrox-Park zur „Mutter aller Derbys“ zu gelangen: Rangers gegen Celtic. Protestanten gegen Katholiken. Die Blauen gegen die Grün-Weißen. Das Spiel ist natürlich ausverkauft. Seit Monaten schon. „Aber vielleicht haben wir ja Glück auf dem Schwarzmarkt“, sagen die Leichlinger. Ihr Plan ist folgender: irgendwo am Stadion in einen Pub setzen, sich dezent umschauen und dann hoffen, dass „uns irgendeiner die Karte der kranken Oma oder der verhinderten Tante überlässt“. Hört sich ein bisschen an wie das alte Fußballerklischee „Hinten dichtmachen, vorne hilft der liebe Gott“, das nicht immer funktioniert.


    Aber wie die Sache auch ausgehen mag: Fest anvisiert ist auf jeden Fall das nächste Spiel im Glasgower Umland: 15 Uhr, St. Mirren FC gegen Hamilton Academical. Nach dem Abpfiff dort: erneut rein ins Auto. Aufbruch zurück nach London, wieder rund 600 Kilometer mit einer Übernachtung „auf halber Strecke oder so“. Der Fixpunkt in der Hauptstadt am nächsten Tag, dem 28. Dezember, ist das Spiel der dritten englischen Liga zwischen Millwall und Yeovil Town. Es ist der letzte Termin. Das Ende der Hetze. Alles was danach kommt ist: Pause, Verschnaufen, Relaxen.


    Das, was Marius und Sebastian - die sich vom gemeinsamen Bolzen auf Leichlingens Fußballplätzen und regelmäßigen Spielbesuchen „beim Bayer“ kennen - da veranstalten, nennt sich „Ground-Hopping“. Es ist das „Hüpfen“ von Stadion zu Stadion. „Und das“, sagt Marius lachend, „ist kein Zuckerschlecken.“ Womit er natürlich meint: Es ist das grandioseste Hobby, das man als Fußballfan haben kann. Er selbst hat bereits 124 Stadien in 23 Ländern gesehen. Sebastian war in 110 Stadien in zwölf Ländern.


    Auf den zig Eintrittskarten, die Marius im Laufe der vergangenen Jahre gesammelt hat, stehen Vereinsnamen, die dem Fernseh-Fußballfan oder VIP-Logenbesucher nur ein Kopfschütteln entlocken würden: FK Ekranas (Panevezys / Litauen), Orlando Pirates (Johannesburg / Südafrika), FK Marila Pribram (Pribram / Tschechien), IF Gnistan (Helsinki / Finnland), FC Ajax Lasnamäe (Tallinn / Estland) oder De Graafschap (Doetinchem / Niederlande). Marius und Sebastian waren zwar auch schon an der legendären „Anfield Road“ in Liverpool, im Mailänder „Giuseppe-Meazza-Stadion“, im Wiener Ernst-Happel-Stadion oder im „Camp Nou“ des CF Barcelona. Aber es sind die kleinen Stadien der kleinen Vereine, die für sie am interessantesten sind - weil in ihnen der Geist des Fußballs am ursprünglichsten weht. „Je schäbiger und baufälliger, umso besser“, sagen sie, die seit 1994 zwar Dauerkarten bei Bayer 04 haben, zu jedem Auswärtsspiel fahren und dabei Gäste in den mitunter modernsten Arenen Europas sind. Aber: Diese Arenen sind manchmal eben auch sehr steril und „kalt“. Ein verrosteter Block-Zaun, eine windschiefe Würstchenbude, zugige Tribünen - so etwas suchen die beiden. Weil so etwas viel mehr Charakter und Charme hat.


    Viel Geld


    Übrigens: Für ihre Insel-Tour dieser Tage werden sie gute 1600 Kilometer abreißen und mehr als 300 Euro ausgeben. „In den Betrag ist das Benzin noch nicht eingerechnet.“ Viel Geld ist das: Für einen Bürokaufmann wie Sebastian. Und erst recht für einen Studenten der Sozialpädagogik wie Marius, der nebenbei im Jugendzentrum arbeitet, um seine - neben den Fahrten zu Bayer 04 - „drei bis vier Touren jährlich“ zu finanzieren. „Aber es lohnt sich.


    Es ist jedes Mal ein Abenteuer“, sagt er und bekommt glänzende Augen. „Ich stand schon auf irgendwelchen vollkommen abseits gelegenen Busbahnhöfen in Tschechien und musste mir auf eigene Faust den Weg zum Stadion suchen. Ich habe legendäre Stadien gesehen. Und ich habe eine Menge netter und toller Menschen kennen gelernt - vom Fußballfan in England über richtig »professionelle« und in einer entsprechenden Vereinigung organisierte »Ground-Hopper« bis hin zum fließend Deutsch sprechenden Penner in Zagreb, der unsere kleine Gruppe auf eine stundenlange Kneipentour durch die Stadt mitnahm.“


    Diese Erlebnisse - gepaart mit dem Gen des „Fußballverrückten“ - lässt sie auch das Unverständnis jener Menschen ignorieren, die mit Fußball nichts oder nicht soviel am Hut haben. Sollen sie halt Weihnachten und Besinnlichkeit feiern. Marius und Sebastian feiern lieber das Abenteuer.


    quelle: Leverkusener Anzeiger

    Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.
    (Sokrates, gr. Philosoph, 470-399 v.Chr.)


    Wenn jemand zu Dir sagt: Die Zeit heilt alle Wunden. Hau ihm in die Fresse und sag: Warte, ist gleich wieder gut.