In der Nacht vom Freitag auf Samstag hat Mehmet Scholl in einem Traditionslokal auf St. Pauli über die Zukunft des FC Bayern gesprochen. Vorneweg über seinen Sohn Lucas, dessen Talent er seit ein paar Monaten auch als U 13-Trainer des FCB fördert. Noch begabter als sein Filius wäre jedoch ein Spielkamerad von Lucas, mit Namen Gianluca Gaudino. "Wahnsinn", meint Scholl, was der Spross von Maurizio Gaudino so alles drauf hätte. Schließlich sprach Scholl über Toni Kroos, den er bekanntermaßen vor zwei Jahren Bayern-Manager Uli Hoeneß anempfohlen hatte. Und Scholl deutete an, dass der mittlerweile 19-jährige Kroos vielleicht doch noch vor Ende der Wechselfrist ausgeliehen werden könnte.
Jetzt ist klar, dass Scholl mehr wusste. Denn Kroos, 19, spielt ab sofort auf Leihbasis für Bayer Leverkusen, soll dort mehr Einsatzzeit bekommen, soll wachsen und in eineinhalb Jahren als fertiger Spieler nach München zurückkehren. So ist es von den Bayern und von Roland Kroos, dem besorgten Vater, angedacht. Philipp Lahm, der sich während seiner Ausbildungszeit beim VfB Stuttgart zum Nationalspieler mauserte, ist das Beispiel.
Der Wechsel von Toni Kroos ist zweifellos der bemerkenswerteste ligainterne Transfer seit vielen Jahren. Ein sonderbarer Vorgang, der eindrucksvoll das Wesen und die Personalpolitik des FC Bayern charakterisiert. Da ist freilich die menschliche Komponente. Toni Kroos wollte unbedingt nach Leverkusen. Und so wollte Hoeneß ("Es wäre unsere größte Sünde, wenn wir keinen Platz für Toni Kroos finden.") dem Nachwuchsmann doch wenigstens diesen Wunsch erfüllen. Das Leihgeschäft zeugt zudem von einer gewissen Überheblichkeit, gemäß der Einschätzung, dass Bayer auf ewig nur Zweiter sein wird, hinter den Bayern, versteht sich.
Doch in erster Linie ist der Abgang von Kroos als unfreiwilliges Geständnis zu deuten. Als Geständnis der Münchner, wieder einmal keinen Weg gefunden zu haben, um ein Ausnahmetalent wie Kroos mit all seinem jugendlichen Genie und Esprit in das eigene Spiel einzubinden. Sie hatten nicht den Mut, dem Tagesgeschäft zu trotzen, haben Kroos bekümmert und geben nun die eigene Zukunft aus Verlegenheit in fremde Hände. So wie es reiche Eltern tun, wenn sie und der Hauslehrer mit der Erziehung des hochbegabten Kindes überfordert sind.
Das Scheitern mit Kroos ist nach dem Fall Marcell Jansen ohne Frage der zweite Makel in Jürgen Klinsmanns noch so junger Karriere als Vereinstrainer. Klinsmann, der sich gern als Förderer der Jugend geriert, vertraute in der Defensive zunächst auf Massimo Oddo anstatt auf Jansen, für den Lahm auch auf rechts hätte wechseln können. Und Klinsmann will in der Offensive unbedingt an Landon Donovan, 27, glauben. Den Amerikaner bezeichnet man in München als putzig, wie Scholl in der Nacht von Freitag auf Samstag ausplauderte. Und putzig klingt nicht gerade wie ein Lob.
Berliner Zeitung vom 02.02.2009