Die Tücken des Jugendstils

  • Leverkusens Spagat zwischen Alltag und Zukunftsplanung


    von Stefan Kusche


    Bayer Leverkusen gilt in der Bundesliga als erste Adresse für Talente. Für zu viele Talente? Stimmt in der Mannschaft noch die Mischung und Balance zwischen Alt und Jung? Aktuell läuft der Klub Gefahr, sein Saisonziel erneut zu verpassen.


    Anfang dieses Jahres waren sie wieder ausgeschwärmt. Die Talentscouts von Bayer 04 Leverkusen saßen mit Kennerblick auf den Tribünen in Venezuela, wo im Januar und Februar das südamerikanische Qualifikationsturnier für die U-20-WM in Ägypten ausgespielt wurde. Nicht auszuschließen, dass einer der Hochbegabten in Zukunft das Trikot mit dem Bayer-Kreuz tragen wird.


    Wie kein zweiter deutscher Klub fahndet der Werksverein nach den Stars von morgen. Und gerne lässt sich der Klub das Image des führenden Talentefinders und -ausbilders gefallen. Denn eine junge - und damit meist kostengünstigere - Mannschaft vereint einen Haufen Vorteile: Fans sind geduldiger mit den jungen Wilden als mit vermeintlich alten Abzockern. Trainern wird schnell ein Händchen für Talente bescheinigt - wenn es läuft. In schlechteren Zeiten taugt Trainern und sportlicher Leitung die fehlende Erfahrung, Konstanz oder unklare Hierarchie unter den Jungspunden als kraftvollstes Argument für fehlende Punkte.



    Anspruch ist das internationale Geschäft


    Das läuft bei Bayer Leverkusen nicht anders, und der Klub könnte den aktuellen Sturz aus den internationalen Plätzen somit recht schlüssig und unaufgeregt erklären. Wenn da nicht die Tatsache wäre, dass Bayer laut Geschäftsführer Wolfgang Holzhäuser mit seinem Etat noch immer zum oberen Drittel der Bundesliga gehört. Mit dem klaren Anspruch, sich für das internationale Geschäft zu qualifizieren.


    Dem finanziellen Zwang, massiv auf junge Spieler setzen zu müssen, unterliegen die Leverkusener also nicht - auch wenn die Zeiten des Überflusses unter dem früheren Manager Reiner Calmund längst Geschichte sind. Und so regt sich rund um die BayArena nicht nur die branchenübliche Kritik an Trainer Bruno Labbadia, sondern auch an der Zusammensetzung und -stellung des aktuellen Kaders. Hat die sportliche Leitung den Jugendstil übertrieben? Fehlt die gesunde Mischung zwischen Alt und Jung und ist ein Teil der Krise deshalb hausgemacht?



    "Gestandene Spieler unverzichtbar"


    Klaus Augenthaler, Ex-Trainer von Bayer Leverkusen, mag die schwache Rückrunde nur bedingt der mangelnden Reife und Routine zuschreiben. "Die gleiche Mannschaft hat schließlich eine starke Hinserie gespielt. Aber fest steht auch, dass eine gute Mannschaft nicht auf gestandene Spieler verzichten kann. Arsène Wenger, der bei Arsenal auch hauptsächlich mit jungen Spielern arbeitet, hat mir mal gesagt, dass ihm zwei, drei gestandene Spieler fehlen, um in England ganz vorne zu sein und um mit Mannschaften wie Manchester oder Chelsea mitzuhalten."


    Bei Bayer sind Manuel Friedrich (29 Jahre) und Simon Rolfes (27) die einzigen Stammspieler, die älter als 25 Jahre sind. Vratislav Gresko (31), Hans Sarpei (32), Angelos Charisteas (29) und Torhüter Gabor Kiraly (33) spielen bislang keine Rolle, Winter-Zugang Thomas Zdebel (35) gilt als Ergänzung. Bernd Schneider (35) kämpft sich nach langer Verletzung erst wieder heran.

    Wieder nicht in den UEFA-Pokal?


    Den erfahrenen Profis Sergej Barbarez, Carsten Ramelow oder Paul Freier, die im Vorjahr noch das Trikot mit dem Bayer-Kreuz trugen, folgten ausschließlich Talente - große, zweifellos. Einen Renato Augusto sähen viele andere Konkurrenten gerne in ihren eigenen Reihen. Das gilt auch für Henrique oder Toni Kroos oder den Schweizer Eren Derdiyok, der wohl im Sommer kommen wird.


    Gerne malt der Klub seine Zukunft rosarot, spricht von einer Mannschaft, die sich in absehbarer Zukunft wieder zu einem Titelanwärter entwickeln kann. Bayer kokettiert mit Kooperationsplänen mit dem FC Chelsea, droht aber gegenwärtig zum zweiten Mal in Folge die Teilnahme am UEFA-Pokal zu verpassen. Mögliche Konsequenzen sind, eigene begehrte Spieler zu verlieren oder nur die zweite Wahl für umworbene Talente zu werden.



    Zwei Siege mit Thomas Zdebel


    Beim Spagat zwischen Zukunftsplanung und Tagesgeschäft könnte die Werkself die Balance verlieren. Sportdirektor Rudi Völler und Manager Michael Reschke müssen sich fragen lassen, ob nicht etwa ein Transfer von ein, zwei gestandenen, ablösefreien Bundesligaspielern sinnvoller wäre, als die große eigene Scoutingabteilung rund um den Erdball nur nach den künftigen Überfliegern jagen zu lassen. Völlers Seufzer, dass der Mannschaft ein "kleiner Drecksack" fehle, erinnert deshalb ein bisschen an den Bauarbeiter, der über die Frühstücksbrote meckert, die er selbst geschmiert hat.


    Und Schnäppchen sind die Jungstars auch nicht unbedingt. Für Arturo Vidal, auf den Bayers Wahl 2007 fiel, mussten rund fünf Millionen Euro Ablöse locker gemacht werden, dazu kommt das Gehalt des Fünfjahresvertrages. Vorbei sind die Zeiten, in denen Bayer sein engmaschiges Scoutingnetz fast exklusiv über den südamerikanischen Kontinent geworfen hat und fast unbehelligt den Erstzugriff auf die Emersons, Zé Robertos und Lucios genoss. Hier haben andere Klubs aufgeholt.


    Es mag Zufall sein, dass Leverkusen seine einzigen zwei Siege in der Rückrunde gegen Hoffenheim und Köln mit Thomas Zdebel in der Startelf und somit mit dem höchsten Altersschnitt errungen hat. Geschadet hat die Erfahrung des fast 36-Jährigen also nachweislich nicht.



    Quelle: heute.de