Auf Streifzug in den Osten

  • Als die Mauer fiel, stand selbst die Fußballwelt still. Nur einer rieb sich die Hände, nicht die Augen: Bayer-04-Manager Reiner Calmund brach sofort gen Osten auf und hatte binnen weniger Tage die besten DDR-Kicker eingekauft. Am Ende stoppte ihn nur Helmut Kohl persönlich. Von Jürgen Löhle



    Am Samstag, den 11. November 1989 landete Reiner Calmund in Berlin. "Der Mauerfall zwei Tage zuvor hatte mich magisch angezogen", sagt der ehemalige Manager des Bundesligisten Bayer 04 Leverkusen heute. "Ich wollte dabei sein, Berlin war immer schon meine Lieblingsstadt." Aber das Bundesliga-Schwergewicht war, bei aller Euphorie jener Tage, auch damals schon ein gewitzter Manager.


    Und so zog es ihn nicht nur an das Brandenburger Tor, zu den Jubelnden, sondern auch ins Olympiastadion im Westteil der Stadt. Zweite Bundesliga stand auf dem Programm, Hertha BSC gegen Wattenscheid 09, normalerweise ein Kick, "bei dem du jedem Zuschauer einen Schnaps spendieren konntest und mit einer Flasche auskamst", so Calmund. An diesem Tag jedoch waren 60.000 ins Rund geströmt, die allermeisten Zuschauer aus dem Osten, und Calmund spürte die ungeheure Kraft, die der Fußball ganz offensichtlich auch in der DDR ausstrahlte.


    Natürlich wusste der Manager, dass auch hinter der Mauer begnadete Kicker wohnten. Das war schließlich sein Job, aber die Ostgrößen waren bislang unerreichbar für Westclubs. Aber nun war alles anders, und während Calmunds Kollegen von München bis Dortmund noch über das politische Erdbeben staunten, reifte in Calmund blitzschnell der Plan, die Besten aus dem Osten zu verpflichten - vor allem schnell, bevor die anderen Bundesligisten aufwachten.


    Mit Notlügen zum DDR-Starkicker-Aufgebot


    "Die Frage war nur, wie", erinnert sich Calmund, "ich konnte zwar jetzt einfach in den Osten fahren, hatte aber weder Adressen und schon gar keine Erlaubnis für Spielerverhandlungen. Die Mauer war zwar offen, die DDR aber noch da." Trotzdem konnte der Manager aus dem Westen schon bald Andreas Thom verpflichten, den besten Stürmer, den die DDR damals zu bieten hatte. Mit einer Notlüge ("Wir beobachten Toni Polster") organisierte er für einen seiner Mitarbeiter eine Akkreditierung als Fotograf für das Länderspiel Österreich-DDR am 15. November in Wien.


    In Wahrheit sollte Calmunds rechte Hand aber nicht knipsen, sondern Kontakt zum Knipser Thom herstellen. "Sieh zu, dass die Österreicher glauben, du wärst aus der DDR, und die aus der DDR müssen denken, du bist Österreicher", gab Calmund seinem Abgesandten mit auf den Weg. Der Coup gelang: Beim Spiel stand Calmunds Spion im Fotografenleibchen hinter der DDR-Ersatzbank und kehrte ein paar Stunden später nach Deutschland zurück - Adresse und Telefonnummer von Thom sowie einen Termin in Berlin im Gepäck.


    Gegen den Trabi-Strom fuhr Calmund am nächsten Tag Richtung Osten. Er hatte Blumen für Frau Thom dabei, ein paar Spielsachen für Tochter Janina, aber vor allem hatte er die Adresse. "Das hätte wir sonst nie gefunden", erklärt Calmund, "Thom wohnte in einem privilegierten Wohnblock, da gab es keine Namen an den Klingelschildern. Thom war schließlich DDR-VIP, der Stürmerstar des Stasi-Klubs Dynamo Berlin und Liebling von Erich Mielke, dem Minister für Staatssicherheit der DDR und damit Chef von knapp 280 000 Spitzeln. Ich habe dann in der Wohnung auch erst mal laut mit der Tapete gesprochen, ich wusste ja, die hören mit", erzählt Calmund. Den nervösen Thom beruhigte er, indem er mehrmals laut sagte: "Keine Sorgen, ich mach' das gleich morgen offiziell."


    Ein West-Manager als Austellungsstück


    Gesagt, getan - gleich am nächsten Tag wurde Calmund beim Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) in der Storkower Straße vorstellig. "Der Portier staunte nicht schlecht, als ich da plötzlich angewatschelt kam, einen Brief mit der Bitte, mit Thom verhandeln zu dürfen, abgab und höflich eine Empfangsbestätigung verlangte", erinnert sich Calmund. Die Erlaubnis bekam er, aber erst, nachdem der Manager zwei Stunden lang durch eine Glastür von nahezu jedem wichtigen Mitarbeiter des mächtigen Dachverbands des DDR-Sports beäugt worden war.


    Mit den offiziellen Stempeln auf dem Papier beruhigte Calmund Thom - und hatte nur kurze Zeit später dessen Unterschrift. Thom verdiente von da an beim Werksclub Bayer 04 Leverkusen 12.000 Mark brutto im Monat plus Prämien. Was heute im Profifußball wie ein Trinkgeld anmutet, war damals viel Geld, Leverkusens Spitzenspieler Thomas Hörster und Christian Schreier bekamen auch nicht mehr. Geld war auch das Schmiermittel für die Verhandlungen mit den DDR-Funktionären. Für Thom allein zahlte Leverkusen eine Transfersumme von etwa drei Millionen Mark.


    Doch Calmund trieb sich nicht nur in Ostberlin herum. Parallel zum Coup in der DDR-Hauptstadt schickte er seine Unterhändler auch Richtung Sachsen, wo die Nationalspieler Matthias Sammer und Ulf Kirsten bei Dynamo Dresden im Team standen. "Zehn Tage nach dem Mauerfall hatten wir dann auch die beiden an uns gebunden", freut sich Calmund noch heute.


    "Sie können die DDR nicht einfach leerkaufen"


    Doch von den drei DDR-Starkickern kamen nur zwei in Leverkusen an, und wäre es nach Bundeskanzler Helmut Kohl gegangen, sogar nur einer. Als der westdeutsche Regierungschef erfuhr, dass Calmund die großen Drei für Leverkusen gesichert hatte, faltete Kohl persönlich die Spitzen der Bayer AG zusammen. "Kohl hat denen gesagt, dass man es sich aus politischen und wirtschaftlichen Gründen nicht erlauben könnte, so kurz nach dem Mauerfall drei DDR-Nationalspieler in einem einzigen Westteam zu präsentieren", erinnert sich Calmund. Laut Leverkusens Ex-Manager sagte Kohl wörtlich: "Sie können die DDR nicht einfach leerkaufen."


    Die Bayer-Chefs kuschten, und Calmund, eigentlich ein treuer Konservativer, verfluchte innerlich seinen Kanzler. Es half aber nichts - Sammer ging nach Stuttgart. Kirsten wollte zunächst nach Bochum, behielt aber Calmund als stillen Berater im Hintergrund, der ihm zu einem Wechsel nach Dortmund riet. Als der Deal so gut wie perfekt war, bekam Calmund einen Anruf. Die Chefs der Bayer-AG hatten beschlossen, jetzt doch nicht mehr auf den Kanzler zu hören. Calmunds Auftrag: "Wenn du den Kirsten noch umbiegen kannst, dann tu es."


    Also fuhr Calmund nach Berlin und passte Kirsten am Flughafen ab, der gerade von einer Reise mit der Nationalmannschaft zurückkam. Er verfrachtete den Kicker flugs in sein Auto und fuhr mit ihm nach Dresden. Drei Tage später war der Vertrag in trockenen Tüchern und Dortmunds Manager Michael Meier dermaßen in Rage, "dass er mich mit Worten beleidigt hat, die ich dem Mann nie zugetraut hätte", so Calmund. Verstehen kann er den Zorn: "Ich selbst wäre umgekehrt wahrscheinlich handgreiflich geworden."


    Ulf Kirsten wurde in Leverkusen zu einem großen Star der Bundesliga, am Ende seiner Laufbahn 2003 stand er mit 182 Toren auf Platz fünf der ewigen Torjägerliste. Sammer wurde, Kohl sei Dank, mit dem VfB Stuttgart 1992 Meister - und zwar am letzten Spieltag mit einem 2:1-Sieg in Leverkusen. Aber das dürfte das Einzige sein, was Reiner Calmund an der Geschichte seiner Expedition in den Osten nicht so gut gefällt.



    Spiegel.de

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