Der nette Nachbar

  • EREN DERDIYOK (21) ist Leverkusens neuer Torjäger. Er vertritt PATRICK HELMES (25) und wohnt auch noch neben ihm.


    Würde Eren Derdiyok sich die Mühe machen und eine kleine Spionageausrüstung anschaffen, dann könnte er ohne große Verrenkungen dem Nachbarn auf den Teller gucken. Oder auskundschaften, was der sich für Filme reinzieht. Oder einfach schauen, wie es Patrick Helmes gerade geht.


    Die Wohnanlage am Rande der Kölner Innenstadt, malerisch gelegen am Aachener Weiher, wird bevorzugt von gut verdienenden jungen Menschen frequentiert. Bayer Leverkusens Neuzugang fand dort eine Maisonette-Wohnung im vierten Stock, zufällig in direkter Nähe zu Helmes, seinem Mitspieler. So nah, dass sie sich zuwinken können, wenn der eine im Schlaf- und der andere im Wohnzimmer steht.


    Der heutige Nachbar spielte von Beginn an, wenn auch indirekt, Schicksal für den Neuen aus der Schweiz. Patrick Helmes’ Wiesenkick mit den schlimmen Folgen für das Kreuzband seines linken Knies war der große Aufreger der Sommervorbereitung. Und das Gros der Bayer-Fans fragte sich besorgt: „Wie soll man jemanden ersetzen, der in der vergangenen Saison immerhin 21 Tore erzielt hat?“ Mittlerweile, nach vier Bundesligaspielen und dem Erstrundensieg im DFB-Pokal bei Babelsberg 03, wird eine andere Frage gestellt: „Mit welchem Angriff würde Bayer spielen, wenn Helmes sich nicht verletzt hätte?“


    Der Grund für diese Frage heißt eben Eren Derdiyok, ist 21 Jahre alt, 1,91 Meter groß und 83 Kilogramm schwer. Einer, der nicht den Eindruck macht, als wolle oder müsse er sich hinten anstellen – auch dann nicht, wenn alle fit sind. Bayer-Geschäftsführer Wolfgang Holzhäuser (59) hatte nach Bekanntwerden der Verpflichtung des in Basel geborenen Sohnes türkischer Eltern die Messlatte noch ungewöhnlich tief gelegt: „Wir sind überzeugt davon, dass Eren in zwei, drei Jahren eine feste Größe in der Bundesliga ist.“ Und weil der für 3,8 Millionen Euro vom FC Basel geholte Nationalspieler und EM-Teilnehmer 2008 ein gut erzogener, höflicher junger Mann ist, zog er angesichts dieser Worte nicht staunend die Augenbraue hoch, er lobte sogar seinen Arbeitgeber: „Es spricht für die Verantwortlichen bei Bayer, dass sie mir den Druck nehmen wollen. Und damit zeigen, dass sie viel Geduld mit jungen Spielern haben.“ Doch Derdiyok sagte auch: „Ich will früher zeigen, was ich draufhabe!“


    Früh dran war er immer. Gerade sechs Jahre alt, zog es ihn weg von der Wiese zum Vereinsfußball. Sein Vater suchte die „Old Boys“ Basel als Klub aus. Das Talent reifte schnell, und noch als Jugendlicher wurde er in die erste Mannschaft des Viertligisten hochgezogen, ein Pokalspiel gegen den großen FC Basel ging zwar 1:6 verloren, doch der mittlerweile 18-Jährige erzielte einen wunderschönen Treffer und löste damit die Eintrittskarte in die große Fußballwelt. Der FC Basel verpflichtete ihn, Eren startete durch, bis in die Nationalelf: Sein erstes Länderspiel Anfang 2008 garnierte er mit einem Tor – gegen England, in Wembley. Die Scouts wurden scharf auf diesen Hünen, der laufstark und technisch beschlagen wirkt, taktisch klug spielt und nie für die Galerie.


    Dass er auch die bediente, minderte das Interesse nicht. Als er im November 2008 in Camp Nou beim 1:1 des FC Basel beim FC Barcelona (den er immer auswählt, wenn er sich auf der Playstation austobt) per wunderschöner Direktabnahme traf, konnte sich Berater Volker Struth (43) vor Anrufen kaum mehr retten: Aus Moskau, St. Petersburg, Mailand, London, Hoffenheim, Hamburg und Gelsenkirchen meldeten sich die Interessenten – zu spät. „Ich hatte mich längst für Bayer entschieden“, erklärt Derdiyok, „neues Stadion, junge Mannschaft – mir gefiel das Paket.“


    Dass mittlerweile ein anderer Trainer dort arbeitet, bereitet Derdiyok keine Probleme, im Gegenteil: „Herr Heynckes ist für mich ebenso ein Glücksfall wie Ottmar Hitzfeld.“ Der Ex-Bayern-Coach, seit 2008 der Chef der Schweiz, überschüttet ihn mit Lob: „Er ist ein sehr kompletter, fast schon perfekter Stürmer, stark am Ball, kopfballstark, bewegt sich gut.“ Martin Andermatt (47), einer der profundesten Kenner der deutsch-schweizerischen Profi-Szene, hebt die Geradlinigkeit des Leverkuseners hervor: „Er hat den Wechsel früh bekannt gegeben und erlebte danach keine einfache Zeit in Basel. Aber er stand zu seiner Entscheidung. Für solch einen jungen Kerl ist das bemerkenswert!“


    Auch wenn er im Abschluss noch etwas überhastet wirkt (wie beim 2:1 gegen Bochum) – im Job läuft es, und eine Freundin hat Derdiyok seit einem Monat auch. „Sie gibt mir den Kick für die Bundesliga“, sagt er verliebt. Das Leben könnte schlimmer sein am Aachener Weiher, oben, im vierten Stock …
    FRANK LUßEM




    Eren Derdiyok


    Geboren: 12. Juni 1988
    Seine Vereine:
    1994 – 2006 Old Boys Basel
    2006 – 2009 FC Basel
    seit 1. Juli 2009 Bayer Leverkusen
    Seine Einsätze/seine Tore:
    4 Bundesligaspiele /3
    63 Erstligaspiele in der Schweiz /17
    18 Drittligaspiele in der Schweiz /10
    16 Europapokalspiele /2
    13 A-Länderspiele für die Schweiz /1
    Seine Erfolge:
    Schweizer Meister 2008, Schweizer Pokalsieger 2007, 2008
    Seine Turniere:
    EM 2008




    Quelle: kicker-Printausgabe vom 31.08.09