Die Nachwuchs-Leistungszentren der Bundesliga rechnen sich: Allein LEVERKUSEN bildete in den letzten Jahren rund 50 Profis aus.
Man traf sich anlässlich der feierlichen Wiedereröffnung der BayArena Mitte August. Plaudernd standen vier DFB-Vorstandsmitglieder beim früheren Bayer-Manager Reiner Calmund (60). Plötzlich zeigte DFB-Vizepräsident Hans-Dieter Drewitz (65) in Richtung Südtribüne und sagte: „Da drüben in der Loge hat alles angefangen.“
Spätsommer 2000. Der deutsche Fußball liegt am Boden. Jämmerlich gescheitert (Vorrunden-Aus) ist das Flaggschiff Nationalelf beim Versuch, den Europameister-Titel von 1996 zu verteidigen. Bundestrainer Erich Ribbeck tritt zurück, sein Nachfolger soll Christoph Daum werden, es wird schließlich Rudi Völler, die Geschichte ist bekannt. Leverkusen avanciert in den folgenden Jahren durch diese Berufung neben Frankfurt zu einem Zentrum des deutschen Fußballs. Eher unbemerkt trifft sich in der BayArena eine vom damaligen DFB-Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder (76) eingesetzte Experten-Kommission, die das Thema Nachwuchs-Schulung anschieben soll. Es ist ein entscheidender, wegweisender Schulterschluss von DFB und Liga mit einem wichtigen Resultat: Jeder Profi verein muss in Zukunft für die Lizenzierung ein Nachwuchs-Leistungszentrum (NLZ) nachweisen. Vier Jahre später liegt der deutsche Fußball nach der EM 2004 zwar wieder am Boden. Doch mit Philipp Lahm (25), Lukas Podolski (24) und Bastian Schweinsteiger (25) stehen drei Hoffnungsträger im Kader der Nationalmannschaft, die man heute getrost als erste Absolventen der Nachwuchs-Leistungszentren bezeichnen kann.
Aus den zarten Pflänzchen von damals ist heute längst ein großer, bunter Strauß geworden. Die Talentschulen des deutschen Fußballs erfüllen ihren Zweck, immer mehr in Deutschland ausgebildete junge Spieler drängen in die (mittlerweile) drei Profiligen. 185 Spieler, die seit 2001 die NLZ durchliefen, stehen aktuell in den Kadern der 18 Bundesligisten – das macht bei 534 Profis satte 34,6 Prozent. Eine Zahl, die Jörg Bittner (42) und Dirk Diekmann (46) ein Lächeln aufs Gesicht zaubert. Zwei Fachleute, bundesweit nur Insidern bekannt, und doch wichtige Begleiter jeder Menge Profis.
Beide arbeiten als hauptamtliche Nachwuchstrainer für Bayer Leverkusen, darüber hinaus begleiten und beraten sie Spieler und Eltern von der U 8 bis zur U 15. Ihr Arbeitsplatz liegt zwischen einem Segelflugplatz und einer ICE-Trasse und vom Verwaltungsgebäude aus sieht man bis zum Horizont nur Fußballplätze. Auf 35 000 Quadratmetern werden im Leverkusener NLZ jeden Tag rund 160 Kinder und Jugendliche von 38 Trainern und Betreuern ausgebildet. Mit Erfolg: Rund 50 Spieler von Bayer kicken aktuell in den drei Profiligen. Es sind die Idole wie René Adler (24) oder Gonzalo Castro (22). Es sind aber auch Jungprofis wie Kevin Kratz (22, Alemannia Aachen) Jens Hegeler (21, FC Augsburg) oder Kim Falkenberg (21, Spvgg Greuther Fürth). Talente zu finden und zu formen ist ein harter Job geworden. Bittner: „Mitte der 90er Jahre hatten wir in unserem Einzugsgebiet einen großen Vorsprung. Doch die Konkurrenz hat aufgeholt.“ Die Arbeit in den NLZ sorgte für ein Höchstmaß an Professionalisierung: „Heute ist jeder talentierte E-Jugendspieler aus der Region bei jedem Verein bekannt. Da ist der Erstkontakt unglaublich wichtig“, so Bittner. Aber nicht immer hilfreich: Als ein Bayer-Scout einst in Bergheim bei den Podolskis auf der Couch saß, starrte er auf eine Wand voller Geißböcke und FC-Wimpel: „Da wusste er gleich, das macht keinen Sinn.“
Der Fußball-Westen mit Köln, Leverkusen, Mönchengladbach, Aachen, Dortmund, Schalke, Bochum oder Duisburg ist ein hart umkämpftes Gebiet um jedes Talent. Die Späher müssen schnell sein und ein gutes Auge haben. So wurde Stefan Reinartz (20) von Bayer-Scout Jürgen Dillenburg entdeckt, als sein Team 0:21 unterlag: „Aber der Junge hatte was.“ Knapp zehn Jahre später wurde Reinartz mit der deutschen U 19 Europameister. Und mit ihm die Leverkusener Kumpel Richard Sukuta-Pasu (19), Marcel Risse (19), Oliver Petersch (20), Bastian Oczipka (20) und Deniz Naki (20) – alle fünf sind heute Profis.
„Gemütlicher“ können Vereine wie der VfB Stuttgart oder Hertha BSC Berlin die Planungen vorantreiben. Riesige Einzugsgebiete mit wenig Konkurrenz sorgen dafür, dass Entscheidungen länger reifen können. So wechselten die späteren Nationalspieler und Millionen-Seller Kevin Kuranyi und Mario Gomez erst im Alter von 17 bzw. 16 Jahren zum VfB Stuttgart, konnten viel länger im gewohnten Umfeld in Ruhe reifen. Dagegen weist der durchschnittliche Leverkusener Profi eine Vereinszugehörigkeit von rund acht Jahren aus bis zum Eintritt ins Seniorenalter, ist ergo seit der E- oder D-Jugend im Klub. Bittner: „Wir müssen unsere Entscheidungen viel früher treffen.“
Für die qualitativ hochwertige Arbeit, die in den NLZ geleistet wird, steht eine andere Zahl ebenso. Kauften die Bundesligaklubs früher recht wahllos Spieler aus aller Herren Länder ein, setzte sich seit 2001 der Trend der Regionalisierung durch. Über 90 Prozent der Spieler aus den zehn Nachwuchsteams von Bayer kommen aus einem Umkreis von rund 60 Kilometern. In der aktuellen U 17, die alleine acht Nationalspieler stellt und weitere sieben Akteure, die zum erweiterten Kreis der DFB-Teams U 16 und U 17, stammen alleine fünf Spieler aus Leverkusen, einer Stadt mit 160 000 Einwohnern. Merke: Es gibt überall in Deutschland gute Fußballer, sie müssen gefunden und geformt werden. Nur unwesentlich anders liegen die Dinge in Köln, München oder Gladbach: Funktionierende Internate bieten hier zusätzlich Spielern Platz, die von weit her kommen. Auch bei Bayer gibt es Ausnahmen, etwa René Adler, den man einst aus Leipzig holte. Dessen heutiger Konkurrent Tim Wiese ist Beispiel dafür, dass man vor Fehlern nicht gefeit ist. Wiese verließ Bayer 1999 nach acht Jahren, schaffte über den Umweg Fortuna Köln den Sprung in den Profifußball und ist zehn Jahre später ein WM-Kandidat.
Stetig stieg in den vergangenen Jahren die Summe, die von den 36 Profiklubs in die Arbeit der Leistungszentren investiert wurde: Waren es 2003/2004 noch knapp 57 Millionen, standen 2007/2008 bereits gut 70 Millionen zu Buche. Und die Investitionen steigen – weil sie sich lohnen. Die Zahlen belegen, dass mehr Wert auf Ausbildung gelegt wird, spätere Transfererlöse werden natürlich einkalkuliert. Die rund 35 Millionen, die ein Mario Gomez dem VfB Stuttgart brachte, sichern die Ausbildung von dessen Nachfolgern auf Jahre, so entsteht ein gesunder Kreislauf, der sich zum Wohl des Fußballs ausweiten wird – diese Prognose ist nicht zu gewagt.
Auch die Erfolge der U-Teams sprechen eine deutliche Sprache, die errungenen Titel sind ebenso wenig ein Wunder wie die Tatsache, dass immer mehr Spieler früher Stammplätze ergattern. „Generation Zukunft – jetzt sind wir dran!“ titelte der kicker am 16. Juli 2009 über die Özils, Boatengs oder Marins.
Diese Spieler bekamen nach dem U-21-Sieg von der UEFA eine Goldmedaille. Wie auch DFB-Präsident Dr. Theo Zwanziger (64). Mit einer großen Geste überreichte er das Erinnerungsstück Gerhard Mayer-Vorfelder. Dem Mann, der in die Wege leitete, was im Spätsommer 2000 in Leverkusen begann und mit dem EM-Titel längst noch nicht enden soll.
FRANK LUßEM
Quelle:kicker-Printausgabe vom 07.09.09