4:0 gegen Nürnberg: Leverkusen spielt nach vorn so gut wie immer und nach hinten so gut wie lange nicht. Dank Hyypiä reift Bayer vielleicht sogar zu einem Titelkandidaten.
LEVERKUSEN. Kann Bayer Leverkusen in dieser Saison deutscher Fußballmeister werden? Diese Frage darf man nach dem achten Bundesliga-Spieltag niemandem stellen, der im Verein irgendetwas zu sagen hat. Kein Verantwortlicher ist bereit, sich damit öffentlich ernsthaft auseinanderzusetzen, Möglichkeiten und Gefahren gegeneinander abzuwägen. Reflexhaft fallen die Antworten aus: Es sei viel zu früh für fundierte Aussagen, lieber mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben als herumzuspinnen.
Eines ist sicher: Das 4:0 über den 1. FC Nürnberg, das am Samstag den Sprung an die Tabellenspitze brachte, lieferte keine Beweise für die Stärken und Schwächen der aktuellen Bayer-Mannschaft, allenfalls Indizien. Denn der Aufsteiger bot nur eine Viertelstunde lang Widerstand, ansonsten präsentierte er sich eher als willfähriges Opfer, das sich in der zweiten Spielhälfte nicht ein einziges Mal bis in den Leverkusener Strafraum schleppte. Gäbe es eine Castingshow für Hobby-Torwarte „Ich bin der neue Rene Adler“, in diesen 45 Minuten hätte jeder Kandidat die Null gehalten.
Nach dem wunderbaren Freistoßtreffer von Toni Kroos für Leverkusen in der zweiten Spielminute benötigten die Nürnber- ger zehn Minuten, um sich zu berappeln, spielten danach eine Weile gefällig mit, bis sie nach den Treffern von Rolfes (28., Foulelfmeter) und Derdiyok (34.) völlig umkippten. „Es wäre zwar aller Ehren Wert gewesen, in der zweiten Halbzeit nach vorne noch etwas zu versuchen, aber es wäre nicht klug gewesen“, formulierte Club-Trainer Michael Oenning in feinem Deutsch den Tatbestand der freiwilligen Selbstbeschränkung. Sie sei der schwierigen psychologischen Situation seiner ver- unsicherten Spieler geschuldet. Oenning war schon ausgesprochen froh, dass im zweiten Durchgang nur noch Kießling die Lage mit einem Gegentor weiter verschlechterte.
Die Schwäche des letzten Gegners eingerechnet: So langsam fragt sich die Liga, ob die Leverkusener diesmal als Meisterschaftskandidat ernst zu nehmen sind. In den vergangenen beiden Spielzeiten brach die Bayer-Elf nach gutem Beginn jeweils ein. 30:21 und 32:17 lauteten die Punktverhältnisse zwischen Hin- und Rückrunde in den letzten zwei Jahren. Wieso sollte es diesmal also anders werden? Zunächst einmal ist die Vorgabe so gut wie nie zuvor, das Selbstbewusstsein entsprechend größer. 20 Punkte nach acht Runden konnten die Leverkusener noch nicht einmal in der sagenumwobenen Spielzeit 2001/02 aufweisen, die mit dem Champions-League- Finale gegen Real Madrid und Platz zwei in der Meisterschaft endete. Und dann lässt ein Blick auf die Tordifferenz erkennen, dass die Siege von Bayer diesmal eine sehr bodenständige Grundlage haben und nicht wie in der Vergangenheit einem artistischen Angriffswirbel entspringen, der manchmal zu luftigen Höhenflügen, dann aber auch wieder zu schmerzhaften Abstürzen führte. Fünf Gegentore in acht Begegnungen sprechen für eine sehr gesunde Basisarbeit innerhalb der Mannschaft. Zuletzt wies Bayer in der Spielzeit 1998/99 eine Gegentorquote von unter 1 pro Spiel auf.
Der Mann, der stellvertretend für die neue trutzige Verteidigungsbereitschaft in Leverkusen steht, heißt Sami Hyypiä. Der Finne wird in dieser Woche 36 Jahre alt und sieht keinen Tag jünger aus. Nach zehn Jahren und 314 Ligaspielen gab der FC Liverpool seinem Abwehrchef in diesem Sommer keinen neuen Vertrag mehr. Nicht mehr gut genug für ein Spitzenteam der Premier League – für Bundesligaspitzenreiter Bayer hat Hyypiä einen immensen Wert. Mit seiner stoischen Ruhe und Abgeklärtheit, mit seinem Überblick und seiner Antizipationsfähigkeit wirkt der Finne wie eine 1,90 Meter große Beruhigungspille auf die früher manchmal etwas hibbelig wirkenden Kollegen.
Hyypiä lässt sich durch kaum etwas aus der Reserve locken, auch nicht durch die provozierende Frage, ob Leverkusen auch in der Premier League schon ein Schwergewicht wäre. Lieber weicht der Finne aus, leichtfüßiger als auf dem Platz: „Auf jeden Fall kommt die Bundesliga in der Spielweise der Premier League von allen europäi- schen Ligen am nächsten. Es gibt viele ähnliche Spielertypen.“ Und es gehe in Deutschland fast genauso schnell und athletisch zur Sache wie in England.
Dass Bayer so weit oben stehe, sieht Hyypiä in der deutlichen Verbesserung eines Details begründet. „Als ich mir in der Sommerpause ein paar DVD über Leverkusen anschaute, sah ich sofort, dass die Mannschaft eine Menge guter Spieler hat. Ich sagte mir, das Fußballerische würde nie ein Problem darstellen. Aber die Mannschaft hatte ein Problem mit dem Spiel gegen den Ball.“ Diese Tatsache habe ihn jedoch nicht abgeschreckt: „Das Spiel gegen den Ball kann man einer Mannschaft viel leichter beibringen als ein gutes Offensivspiel.“
So geschah es, und deshalb spricht sogar der zur Vorsicht neigende Trainer Jupp Heynckes sehr zuversichtlich über die Zukunftsaussichten seines Teams: „Weil wir uns viele Torchancen herausspielen, ohne viele gegnerische Möglichkeiten zuzulassen. “ Selbst wenn der Kombinationsfluss von Bayer mal stockt, reicht es für ein 0:0 oder gar einen hässlichen Sieg – wie beim 1:0 gegen den ungeliebten Rivalen 1. FC Köln vor einer Woche: „So ein Spiel hätten wir in der letzten Saison nicht gewonnen“, sagt Torjäger Kießling. Leverkusen auf dem Vormarsch wegen der Defensive, wer hätte das vor der Saison gedacht?
FAZ Printausgabe 05.10.2009