Wehe, wenn Löw dich lobt

  • Wehe, wenn Löw Dich lobt
    Von Christoph Ruf


    Hoch gelobt und trotzdem nicht dabei: Bundestrainer Joachim Löw nominiert längst nicht immer nach Leistung. Für das entscheidende WM-Qualifikationsspiel gegen Russland könnte sich das Aussitzen von Konflikten als fatal erweisen - wenn die vier bevorzugten Stürmer das Tor nicht treffen.


    Wenn Michael Ballack seine Mannschaft am kommenden Samstag (17 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE) aufs Feld führt, soll nichts sie erschrecken. Weder die Kunstgrashalme, die unter ihr, noch die 90 Minuten, die vor ihr liegen. "Wir haben in den entscheidenden Spielen immer bewiesen, dass wir zu 100 Prozent da sind", sagt Bundestrainer Joachim Löw. Dass man den Russen, dem mangels Konkurrenz weitaus stärksten Gruppengegner, fast in Bestbesetzung gegenübertritt, hebt die Laune im deutschen Lager zusätzlich. Es fehlen nur die Stuttgarter Sami Khedira und Serdar Tasci - zumindest von den Spielern, die Löw gerne dabei gehabt hätte.


    Es überrascht allerdings nicht, wenn bei den Pressekonferenzen des DFB in Mainz immer wieder gefragt wird, warum Stefan Kießling nicht dazu gehört. Schließlich trifft der Leverkusener in der Liga am laufenden Band und erfüllt damit nicht das unwesentlichste Kriterium der Stellenbeschreibung als Angreifer. Ganz im Gegensatz zu den vier Kollegen, die nach Moskau fliegen.


    Von einer Stürmerdiskussion wollte Ballack dennoch nichts wissen. Der Kapitän riet zur Nüchternheit. Und was gäbe es Nüchterneres als Statistiken? Die Stürmer, empfahl der Mann vom FC Chelsea, sollten sich vor dem Spiel doch einfach mal ihre "Scorer-Statistik" anschauen. Die der Nationalmannschaft wohlgemerkt. Die weist nämlich aus, dass Miroslav Klose in 91 Spielen 47 Mal getroffen hat. Auch Lukas Podolski (66/34) und selbst der beim DFB oft unglücklich agierende Mario Gomez (27/10) haben dort eine sehr ordentliche Bilanz vorzuweisen. Und dann wäre da noch Cacau (3/0). "Nationalmannschaft und Verein - das sind zwei Paar Stiefel", sagt Gomez. "Ich bin nominiert, die anderen sind nominiert. Wir gehen mit dem stärksten Kader nach Russland", findet auch Lukas Podolski.


    Kießlings Hilfeschrei über die Presse


    Nun gibt es nicht nur eine "Scorer-Statistik" für die Einsätze mit Bundesadler-Jersey, sondern auch eine für den Ligaalltag. Und da kommen die vier Offensiven zusammen auf 28 Einsätze und nur vier Tore. Klose und Cacau haben bislang noch überhaupt nicht getroffen. Wofür es Gründe geben mag. Schließlich spielt der eine beim FC Bayern, wo man als Nationalstürmer schon froh sein kann, nicht in der Regionalliga antreten zu müssen. Und der andere beim VfB Stuttgart, wo momentan keiner so recht weiß, wie man den Ball erfolgreich im gegnerischen Gehäuse unterbringt.


    Einer weiß das dagegen sehr genau: Stefan Kießling. Der hat schon sechs Mal in acht Spielen getroffen. Das macht ihn nicht automatisch zum besseren Stürmer. Es verschafft ihm aber das Recht zu erfahren, was er gegebenenfalls anders machen muss, um eine Chance zu bekommen. Wenn ein eher zurückhaltender Typ wie er via "Bild" seinem Ärger über die Nichtnominierung Luft macht, muss man das fast schon als Hilfeschrei sehen. Zumal der 25-Jährige intelligent genug ist zu wissen, dass man es sich bei keinem Trainer der Welt - und bei Löw schon gar nicht - leichter macht, wenn man über die Medien Eigenwerbung betreibt. Andererseits: welche anderen Kanäle hätte er, wenn es stimmt, dass Löw seit acht Monaten nicht mehr mit ihm gesprochen hat?


    Kießling ist kein Großmaul, das bei jeder Gelegenheit rote Teppiche einfordert. Er ist selbstkritisch und lernfähig, wie wohl selbst Trainer Hans Meyer zugeben würde, der ihm in Nürnberg immer wieder seine Defizite (Laufwege, Spiel ohne Ball, Defensivarbeit) aufs Brot geschmiert hatte. Kießling hat in den vergangenen Jahren an sich gearbeitet, ein Filigrantechniker ist er immer noch nicht. Aber ein wertvoller Mannschaftsspieler mit einem bemerkenswerten Torriecher. Löw wird wissen, warum er an seiner Stelle Cacau nominiert hat. Öffentlich erklärt hat er es nicht.


    Löws gefährliches Spiel mit den Lobeshymnen


    Man muss keine Skandalgeschichte aus der Löwschen Nominierungspraxis machen. Die meisten Kritiker, die heute die Ausbootung von Gomez oder Klose fordern, würden wohl einen zu 95 Prozent deckungsgleichen Kader nominieren - mit Ausnahme vielleicht von Gerd Müller. Aber das ist ein anderes Thema - oder besser gar keines.


    Im Falle eines Misserfolges - und das wäre ja eine Niederlage in Moskau zweifelsohne - dürfte Löw dennoch in die Kritik geraten. Seine Vorgehensweise, alle Spieler, die nur halbwegs in die Nähe einer Nominierung kommen könnten, in doch ziemlich hohen Tönen zu loben, ist riskant. Impulsivere Gemüter wie die Bremer Tim Wiese und Torsten Frings oder Schalkes Jermaine Jones haben auf ihre Nichtberücksichtigungen schon ziemlich ungehalten reagiert.


    Nun behauptet Löw zwar, er sage es den Spielern deutlich, wenn er nicht auf sie zähle - weshalb auch Frings noch in der Verlosung sei. Genauso wiederholt der Bundestrainer einigermaßen stoisch, der Kampf um die Nummer eins im Tor sei noch nicht entschieden. Dabei könnte man hohe Beträge darauf setzen, dass Frings nie mehr von Beginn an im Nationaltrikot auflaufen und Tim Wiese in der Torwarthierarchie nie mehr auf die Pole Position rücken wird.


    Über kurz oder lang dürfte beides nicht mehr zu verheimlichen sein. Es könnte dann das passieren, was auch anno 2006 unter Klinsmann, dem Gottvater der Positivrhetorik, passierte: Oliver Kahns Wut nach seiner Degradierung zum Ersatztorhüter konnte man damals nachvollziehen. Nicht, weil er besser als Lehmann gewesen wäre. Sondern weil er von vorneherein nur in der Klinsmannschen Rhetorik eine Chance hatte und das zu recht als unwürdig empfand.


    Löw kann vielleicht alles, was Klinsmann kann, er vermeidet jedoch die meisten von dessen Fehlern. Vielleicht sollte er sich noch deutlicher von dessen Rhetorik absetzen.


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    Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die vorbei, in der man kann.