Von Christof Kneer
René Adler beherrscht die Kunst der radikalen Konzentration und Paraden, die den Gegner einschüchtern - mit magischer Souveränität beschützt er das deutsche Tor.
Irgendwann war das Spiel auch für René Adler zu Ende. Eine Weile hatte das nicht so ausgesehen, es schien, als könne er sich nicht trennen von dieser Partie. Als Schiedsrichter Busacca abpfiff, verharrte der Torwart in geduckter Panterhaltung, als erwarte er gleich den nächsten Schuss. Das lag zum einen daran, dass sich Busaccas schüchterner Pfiff im Luschniki-Stadion versendete wie eine DFB-Pokalauslosung nachts um eins. Das lag aber auch daran, dass René Adler Fußball spielt wie René Adler. "Ich wollte den Ball nicht aus den Augen lassen", sagte er, "ich dachte, es gibt Freistoß für Russland."
Wer wissen möchte, warum dieser Adler ein so guter Torwart ist, dem sei dieser Satz zum nochmaligen Lesen empfohlen: Er wollte den Ball nicht aus den Augen lassen. Wenn Adler mitspielt, dann muss sich der arme Spielball darauf gefasst machen, dass er ab sofort keinen Moment mehr unbeobachtet ist. Adler ist lästig, er gibt nie Ruhe, und selbst wenn der Ball auf die Tribüne fliegt, macht sich Adler darauf gefasst, dass er in der übernächsten Sekunde vielleicht gleich wieder so eine spielentscheidende Parade machen muss. "Im modernen Fußball geht alles so schnell, dass du keine einzige Sekunde abschalten darfst", sagt er.
Diese Theorie hat Adler nicht exklusiv, und er ist bestimmt nicht der einzige Torwart auf der Welt, der sich konzentriert. Aber die Tatsache, wie er sich konzentriert, ist außergewöhnlich. Er kann sich so radikal konzentrieren, dass er dem Spiel an guten Tagen seinen Willen aufzwingt. Er kann sich in einen Tunnel hineindenken, in dem es keinen Grund mehr gibt, nervös zu sein, weil in diesem Tunnel nur noch er, der Ball und das Spiel vorkommen.
Demonstrative Bescheidenheit
Es hat schon mal einen deutschen Torhüter gegeben, der in solchen Spielen stets einen handlichen Tunnel zum Aufblasen mit sich führte, und praktischerweise war jener Torwart in Moskau als Fernseh-Experte im Stadion. Auch Oliver Kahn, der Erfinder der Furchtlosigkeit, staunte später über die Furchtlosigkeit dieses jungen Mannes, von dem ohne Zweifel behauptet werden darf, dass er der DFB-Elf die WM-Qualifikation gerettet hat, obwohl er nur vier von neun Qualifikationsspielen bestritt. Adler war der Mann, der das deutsche Tor in den entscheidenden Russland-Spielen mit einer geradezu magischen Souveränität beschützte, was den magieskeptischen Pragmatiker Michael Ballack immerhin zu folgendem Lob veranlasste: "Och", sagte er, "als Torwart musst du heutzutage schon mal einen halten." Verschärftere Lobhudeleien waren gar nicht mehr nötig an diesem Abend, das Spiel hatte ja jeder gesehen.
"Nach einer halben Stunde hat René beim Stand von 0:0 den entscheidenden Ball gehalten", sagte Ballack, "in solchen Momenten kann man ein Spiel in Bahnen lenken." Mehr kann man nicht tun als Torwart, und natürlich wusste Adler, dass die Bilder des Abends so stark waren, dass sie keiner zusätzlichen Belichtung bedurften. "Ein bisschen Glück" habe er bei Bystrows Schuss gehabt und "gerade rechtzeitig die Beine zusammenbekommen", sagte er mit der demonstrativen Bescheidenheit eines Siegers, der sich demonstrative Bescheidenheit leisten kann. "Als ich zu Beginn der zweiten Hälfte zwei weitere Bälle pariert habe, hatte ich das Gefühl, dass ich heute vielleicht keinen mehr reinkriege."
Es lässt sich nicht mehr übersehen, dass Adler vermutlich doch der Torwart ist, der am besten zu dieser Elf passt. Diese Elf tickt ja so, dass sie nur erfolgreich sein kann, wenn sie hochgradig fokussiert, konzentriert und in sich versunken ist; und fokussieren, konzentrieren und versinken kann keiner besser als Adler, der schnell begriffen hat, dass diese Fähigkeit zum Markenzeichen taugt. "Ich lese Bücher über mentales Training und führe Gespräche mit unserem Mentalcoach Hans-Dieter Herrmann", sagt er, "auf Topniveau kann mentale Stärke den entscheidenden Unterschied ausmachen, und es wäre unprofessionell, sich mit so etwas nicht zu beschäftigen."
Über das Handwerk hinaus
René Adler hat das Zeug zum Kahn. An guten Tagen kann er dem Team etwas geben, was übers reine Handwerk hinausreicht. Handwerklich ist ihm der Hannoveraner Robert Enke nicht unbedingt unterlegen, und es gibt Experten, die dem Schalker Manuel Neuer eine noch umfassendere Begabung bescheinigen. Aber Adler hat etwas, was man nicht lernen kann: Er kann Paraden, die den Gegner einschüchtern - sei es, weil sie so spektakulär aussehen oder weil sie zu einem Zeitpunkt kommen, der das ganze Spiel beeinflusst.
Adler weiß, dass ihn jetzt nur noch zwei Umstände aus dem WM-Tor vertreiben können: eine stabile Formkrise von bedeutenderer Art als jene Schwankungen, die er sich zu Beginn des Jahres leistete - oder gesundheitliches Pech von einer Dimension, wie es dem armen Enke ständig widerfährt. Eigentlich hätte ja Enke in beiden Russland-Spielen das DFB-Tor beaufsichtigen sollen; erst brach ihm das Kahnbein, dann flog ihm eine rätselhafte Viruserkrankung zu. Zwar wird auch Adler eine gewisse Begabung für Schulterblessuren nachgesagt, aber an diesem Abend hatte er weder Lust noch Grund, sich auf Zukunftsdebatten einzulassen.
"Ich denke heute nicht darüber nach, wo ich in der Rangfolge der deutschen Torhüter stehe", sagt René Adler. Er muss das auch nicht. Ohne schwerwiegenden Grund nimmt niemand einen Torwart aus dem Tor, dem das Team die Qualifikation verdankt.