Heynckes: „Ja, über Bayern hätte ich nachgedacht“ / TEIL 1

  • JUPP HEYNCKES (64) ist der älteste Trainer der Liga. Und Spitzenreiter. Vor dem Hit beim HSV spricht er über verändertes Training, Toleranz, Vorurteile, Musik, Ohrringe, die Rente mit 67, Adler, Kießling, Podolski, Gomez, van Gaal.


    kicker: Herr Heynckes, wann setzt bei Ihnen vor dem Hit gegen den HSV das Lampenfieber ein?


    Jupp Heynckes: Anspannung ist normal, gerade kurz vor dem Spiel, unabhängig von der Erfahrung.


    kicker: Neuerdings wird Ihre große Gelassenheit bewundert. Haben Sie sich tatsächlich verändert oder spielen Sie eine Rolle?


    Heynckes: Ich bin authentisch. Aufgrund meines Alters und meiner Erfahrung verfolge ich das Ganze unaufgeregt. Früher legte ich auf meine Außenwirkung wenig Wert, sondern war auf die Arbeit mit der Mannschaft fokussiert.


    kicker: Sie waren immer sehr ehrgeizig und professionell. Sind diese erfolgsorientierten Eigenschaften eher in Verbissenheit oder in Gelassenheit auszuleben?


    Heynckes: Als junger Trainer ist man verbissen und ambitioniert, das ist manchmal hinderlich für den großen Erfolg. Souveränität in jeder Situation ist am wichtigsten.


    kicker: Sind Spiele für Sie keine extremen Stresssituationen mehr?


    Heynckes: Doch, aber ich mache mich nicht verrückt. Ich habe als Spieler und Trainer alles durchlebt, es war alles schon 100-mal da. Ich muss rund um das Spiel hoch konzentriert sein, um richtig zu entscheiden. Ich versuche gerecht zu sein, analysiere heute ausgewogener und anders vor der Gruppe als im Einzelgespräch. Man darf nicht verletzend sein.


    kicker: Ist es mit der Gelassenheit vorbei beim ersten Tief?


    Heynckes: Nein, ich werde mich im Misserfolg nicht ändern.


    kicker: Sehen Sie heute Ihren Beruf anders als früher?


    Heynckes: Heute ist alles viel komplexer, man hat größere Mitarbeiterstäbe. Wir haben eine klasse Infrastruktur, meine Fitnesstrainer arbeiten hervorragend. Rüdiger Vollborn zeichnet für René Adlers tolle Entwicklung verantwortlich. Peter Hermann kann mit der Truppe genauso arbeiten wie ich, er hat meine Philosophie, meinen Stil.


    kicker: Was hat sich in Ihrem Beruf am gravierendsten geändert?


    Heynckes: Die Medien. Und extrem der Fußball. Er ist schneller geworden, athletischer. Die Spieler haben es heute schwerer als wir damals.


    kicker: Wie reagieren Sie darauf?


    Heynckes: Beim Taktiktraining reduziere ich die Fläche extrem, viel mehr als früher; weil die Spieler viel weniger Raum und Zeit haben. Ich lege mehr Wert auf Passspiel, auf Ballan- und -mitnahme, es muss schnell gespielt, gepresst werden. Wenn wir Viererkette üben, dann 20 Meter vor dem Tor oder 8 gegen 8 auf extrem engem Raum, dass Einsgegeneins-Duelle entstehen.


    kicker: Welche technischen Hilfsmittel sind für Sie unverzichtbar?


    Heynckes: Über die Laufwege haben wir Auswertungen, die Strecke, wer wo wie weit gespurtet ist, die Anzahl der ankommenden und der Fehlpässe, das beachte ich. Mit diesen Daten habe ich Fakten und Argumente, danach kann ich arbeiten. Man soll die Wissenschaft nutzen, aber nicht überbewerten.


    kicker: Ärgern Sie Bezeichnungen wie Trainer-Oldie?


    Heynckes: Überhaupt nicht.


    kicker: Sie nennen Erfahrung ein goßes Gut. Welche Fehler machen Sie heute nicht mehr?


    Heynckes: In der Menschenführung und Kommunikation habe ich Fehler gemacht. 1985/86 bekamen wir nach dem 5:1-Heimsieg mit Gladbach bei Real Madrid in der 89. Minute das 0:4. Das Aus. Danach habe ich das Team und einzelne Spieler vor versammelter Truppe in den Senkel gestellt. Das würde ich heute nie mehr machen. Aber auch im Alter macht man noch Fehler.


    kicker: Wann spüren Sie den Altersunterschied zu den Spielern?


    Heynckes: Ob Kleidung, Frisur oder Musik – ich bin sehr tolerant. Früher hatte Uwe Kamps in Gladbach Ohrringe, da sagte ich, wie siehst du denn aus. Das würde ich heute nie mehr sagen. Renato Augusto hört im Kraftraum seine brasilianische Musik, in der Kabine legt Kadlec Oldies auf, richtig gute; andere haben fetzigere Musik.


    kicker: Also hat Kadlec einen Stein im Brett?


    Heynckes: Er muss vor allem gut spielen, sonst nichts.


    kicker: Beeinflusst der Kontakt mit jungen Leuten Ihre Sichtweise?


    Heynckes: Junge Leute sind voller Inspirationen, Ideen, auch Blödsinn. Da wird man sensibilisiert für Mode und vieles mehr, das ist eine Bereicherung für mein Leben.


    kicker: Hat sich Ihr Umgang mit den Spielern verändert?


    Heynckes: Es gibt klare Regeln, die alle einhalten, wie die Kleiderordnung. Wer zu spät kommt, zahlt, das verfügt die Truppe. Ich habe nie Geldstrafen ausgesprochen. Kommt einer fünfmal zu spät, greife ich ein. Renato Augusto kehrte einen Tag zu spät aus Brasilien zurück, da nahm ich ihn in den Arm, das hätte ich früher so nicht gemacht. Heute denke ich: Was ist ein Tag? Ich bin toleranter geworden. Wir Menschen können uns nicht von Vorurteilen freisprechen, aber die habe ich mir abgewöhnt. Ich habe keine Vorurteile mehr.


    kicker: Wie kühlen Sie einen Heißsporn wie Arturo Vidal ab?


    Heynckes: Ich nahm ihn in Freiburg raus, erstmals tat ich das in 30 Jahren Trainerdasein vor der Pause. Er spielte immer frei von der Leber weg, das kann er bei mir nicht, jeder hat klare Aufgaben in der defensiven Organisation zu erfüllen.


    kicker: Ist deswegen die Bayer-Abwehr jetzt so stabil?


    Heynckes: Das Defensivverhalten der gesamten Elf wurde besser. Wir müssen ökonomisch spielen, dürfen bei Dribblings nicht den Ball verlieren, wenn sechs Mann in der Vorwärtsbewegung sind. Hyypiä ist zudem ein ruhender Pol, Friedrich bekam neben ihm eine gute Form.


    kicker: Sie hatten großen Abstand vom Fußball. Fühlten Sie sich von der Fußballwelt vergessen?


    Heynckes: Überhaupt nicht. Ich habe nichts vermisst, weil ich zuvor nie in die Öffentlichkeit drängte. Ich hatte Operationen und Krankheiten, da erhielt ich einen Blick für das Wesentliche, etwa dass der Sport die herrlichste Nebensache ist.


    kicker: Sie leben auf einem wunderschönen Anwesen bei Mönchengladbach. Warum haben Sie sich die Last des Trainerberufs erneut angetan?


    Heynckes: Weil mein Freund Ulrich – Uli Hoeneß – und die Bayern-Führung mich dazu animierten. Da kam ich auf Temperatur und konnte den Motor nicht mehr abwürgen.


    kicker: Hatten Sie das Gefühl: Das kann es noch nicht gewesen sein?


    Heynckes: Gar nicht. Dann wäre Bayern ein schöner Abschluss gewesen. Das Unternehmen Bayer 04 habe ich mir reiflich überlegt, ich wusste, das ist ein seriöser, guter Klub.


    kicker: War Ihr Lebenswerk noch nicht vollendet?


    Heynckes: So sehe ich das nicht. In Schalke habe ich sehr gut gearbeitet. Meine Entlassung war eine Enttäuschung. Ich hege aber keinen Groll.


    kicker: Franz Beckenbauer sagt, die Bayern hätten gedacht, Sie würden in den Lehnstuhl zurückkehren. Haben die nicht richtig aufgepasst?


    Heynckes: Nein. Die Bayern haben einen guten Trainer. Wäre die Entscheidung mit van Gaal erst nach dem letzten Spiel gefällt worden, wäre es etwas anderes. Und ohne Champions-League-Qualifikation wäre eine Inthronisierung meiner Person nicht möglich gewesen.


    kicker: Hätten Sie bei entsprechender Nachfrage weitergemacht?


    Heynckes: Ja, ich hätte darüber nachgedacht. Drei Klubs sind in meinem Herzen: Mönchengladbach, Bilbao und Bayern.


    kicker: Sie haben van Gaal in München empfohlen. Hat Ihnen Hoeneß beim letzten Gespräch dafür gedankt oder sich beschwert?


    Heynckes: Ich glaube, man steht dort weiter voll zu van Gaal. Beim FC Bayern hat ein Trainer immer immense Unterstützung.


    kicker: Warum kommt Gomez in München nicht richtig in Tritt?


    Heynckes: Gomez ist ein Wohlfühlspieler. Er muss voll akzeptiert und integriert sein, dann ist er ein Superspieler. Auch bei Lukas Podolski merkte ich: Spieler müssen das uneingeschränkte Vertrauen des Trainers haben.


    kicker: Wie macht man das bei fünf Stürmern?


    Heynckes: Das ist das Problem für Bayern und van Gaal. Aber da muss man sich als Trainer entscheiden.


    ...


    Teil 2 folgt im Anschluss




    Quelle: kicker-Printausgabe vom 12.10.09