Nationaltorwart René Adler im Interview mit der Süddeutschen Zeitung
Interview: Christof Kneer
Die Kunst der Konzentration: DFB-Torwart René Adler über Bilder im Kopf, Flipcharts im Hotel und mentale Hausaufgaben.
SZ: Herr Adler, wie dankbar wären Sie, wenn im folgenden Interview die Frage nach der Nummer eins im deutschen Tor nicht gestellt würde?
Adler: Oh, das fände ich extrem gut. Die Frage wurde mir schon so oft gestellt, und ich werde da immer wieder dieselbe Antwort geben: Es ist noch lange hin bis zur WM. Und es ist wirklich so, dass mich das momentan nicht so sehr beschäftigt, ich lasse dieses Thema einfach nicht an mich ran. Ich beschäftige mich zurzeit mit ganz anderen Dingen.
SZ: Zum Beispiel?
Adler: Ich setze mir zurzeit in jedem Spiel drei Ziele: erstens meine Leistung bringen, zweitens Spaß haben und drittens möglichst zu null zu spielen. Das dritte Ziel ist ein kleiner Insider-Gag.
SZ: Inwiefern?
Adler: Seit Sami Hyypiä bei uns in Leverkusen spielt, hat sich das so eingebürgert: Wir nehmen uns vor jedem Spiel vor, zu null zu spielen, und wenn wir es geschafft haben, dann klatschen wir uns ab. In dieser Saison haben wir das schon ziemlich oft geschafft.
SZ: Beim 1:0 in Russland waren Sie an der Null entscheidend beteiligt. Sie haben hervorragend gehalten und keinen einzigen Wackler gezeigt. Sie wirkten unheimlich gefasst und konzentriert - wie schafft es ein so junger Mensch, in so einem Spiel so ruhig zu bleiben?
Adler: Was die Konzentration betrifft, ist so ein Spiel schon was Besonderes. Das muss man anders angehen als eine normale Bundesligapartie. In der Liga habe ich inzwischen Mechanismen für mich entdeckt, die ich streng einhalte. Zum Beispiel, dass ich am Abend vor dem Spiel bewusst gar nicht so sehr ans Spiel denke, sondern lieber mal eine DVD anschaue. Erst am Spieltag startet dann die Konzentrationsphase: Vor allem in der Mittagsruhe vor dem Spiel versuche ich, mir gewisse Bilder vor Augen zu führen, gewisse Situationen mental durchzuspielen. Man kann bei der Menge an Spielen, die es heutzutage gibt, nicht schon drei Tage vor einer Partie die Konzentration hochfahren - sonst besteht die Gefahr, dass man die Konzentration bis zum Spiel verliert.
SZ: Konzentration ist ein großes Thema für Sie.
Adler: Ein riesengroßes. Auf Spitzenniveau können solche Dinge den Unterschied ausmachen. Man muss sich damit beschäftigen und wissen, dass sich Konzentration nicht auf Knopfdruck herstellen lässt. Das muss man üben und lernen.
SZ: Wie haben Sie sich auf das Russland-Spiel vorbereitet?
Adler: Da beginnt schon mit der Anreise ins Quartier nach Mainz die Fokussierung, aber bei so vielen Tagen der Vorbereitung ist es vor allem wichtig, das Gleichgewicht zwischen An- und Entspannung zu finden. Also: abends auch mal ein Buch lesen und nicht an Fußball denken, aber dafür in jedem Training hochfokussiert jeden Ball angehen.
SZ: Wie funktioniert Konzentration bei Ihnen?
Adler: Ich bin ein sehr visueller Typ. Ich habe manchmal so eine Art Flipchart im Hotel dabei und schreibe dann wie ein Trainer ein paar Begriffe auf, die ich fürs Spiel brauche. Manchmal verbinde ich die Begriffe auch mit Pfeilen. . .
SZ: . . . was sind das denn für Begriffe?
Adler: Banale Dinge zum Teil, Konzentrationsfähigkeit etwa oder auch Merkmale, die fürs jeweilige Spiel gelten, also zum Beispiel, wie ein Stürmer spielt, solche Dinge. Wenn ich so etwas schwarz auf weiß vor mir sehe, hilft mir das, mich ins Spiel einzufühlen.
SZ: Wie wichtig ist der DFB-Sportpsychologe Hans-Dieter Herrmann für Sie?
Adler: Sehr wichtig. Vor so einem Spiel wie jetzt in Russland mache ich nichts mit ihm, da bin zu sehr auf mein Spiel konzentriert, aber in den Ruhephasen suche ich den Kontakt zu ihm. Er zeigt mir dann Trainingsformen für die Konzentration oder empfiehlt mir Bücher. Das ist dann wie eine Hausaufgabe für mich - ich arbeite mich da durch und schaue, wie ich damit zurechtkomme.
SZ: Wie war die Mittagsruhe unmittelbar vor dem Russland-Spiel?
Adler: Anstrengend.
SZ: Konnten Sie schlafen?
Adler: Nein, das kann ich eigentlich nie. Ich liege zwar, aber ich versuche, mir Spielsituationen vorzustellen oder gewisse Torwart-Techniken im Kopf abzurufen. Also: Welchen Bewegungsablauf habe ich, wenn einer allein auf mich zuläuft, welche Schritte mache ich bei Flanken, solche Dinge. Das stelle ich mir visuell vor, so wie ein Bobfahrer vor dem Rennen die Kurven der Strecke durchgeht.
SZ: Beim Stand von 0:0 haben Sie Bystrows Schuss pariert, eine Parade, die Kapitän Michael Ballack später als spielentscheidend eingestuft hat. Bystrow wollte Sie tunneln, Sie haben rechtzeitig die Beine zusammenbekommen. Kam diese Szene in ihrer mittäglichen Konzentrationsphase auch vor?
Adler: Nein, diese konkrete Szene natürlich nicht, aber grundsätzlich ist es schon einstudiert, was ich in solchen Eins-gegen-eins-Situationen tue. Ich weiß ja, dass die Stürmer in solchen Szenen am liebsten einen Tunnel versuchen, weil man da als Torwart im Normalfall nichts machen kann. Mir ist in der Bundesliga zuletzt aufgefallen, dass diese Tunnelversuche immer häufiger werden, deshalb bin ich in dieser Szene etwas anders hingegangen als sonst.
SZ: Sie haben versucht, den Tunnel zu schließen?
Adler: Ja, aber das ist eher so eine Mischung aus bewusster und instinktiver Reaktion. Und Glück war auch dabei.
SZ: Sie haben ja auch im Hinspiel gegen Russland schon großartig gehalten. Freut es Sie, wenn man Ihnen ein Talent für besondere Spiele und besondere Drucksituationen attestiert?
Adler: Es macht mich schon ein bisschen stolz. Weil ich ja weiß, dass es viel Arbeit ist, sich so zu konzentrieren und Verantwortung zu übernehmen. Aber das funktioniert in großen Spielen nur, wenn man auch die kleinen Spiele ernst nimmt. Gegen einen großen Gegner topmotiviert zu sein, ist keine Kunst. Die große Kunst ist es, auch gegen vermeintlich Kleine mental voll auf der Höhe zu sein. Das zeichnet meines Erachtens einen großen Torwart aus: dass er es schafft, in jeder Woche immer wieder das bestmögliche Konzentrationsvermögen abzurufen.
SZ: Das klingt fast wie Oliver Kahn. Der wurde manchmal fast belächelt, weil er das Torwartspiel so komplett über die psychologische Schiene definiert hat.
Adler: Es geht aber auch gar nicht anders. Gerade bei einem wie Olli Kahn, der bei einem Klub wie dem FC Bayern spielte: Da kriegst du oft nur drei, vier Bälle pro Spiel aufs Tor, aber das sind dann Schlüsselszenen, da musst du präsent sein. Ich schmunzele ja manchmal, wie Torwartspiel in der Öffentlichkeit bewertet wird: Ein gutes Spiel ist ja nicht, wenn man zehn Glanzparaden hat, denn so etwas kommt in großen Mannschaften selten vor. Da kommen gar nicht so viele Bälle aufs Tor. Einen Klassetorwart zeichnen viele Dinge aus, die man gar nicht auf den ersten Blick sieht: dass er gut mitspielt, dass er gezielte Abwürfe macht, dass er etwas ausstrahlt.
SZ: Mit anderen Worten: dass er konzentriert ist.
Adler: Genau.
SZ: Macht Konzentration müde?
Adler: Total. Am Tag nach dem Spiel kann ich nicht mit der Mannschaft trainieren, das geht einfach nicht. Ich fahre dann Fahrrad oder mache ein bisschen Krafttraining - auch wenn wir nur im Pokal gegen Babelsberg gespielt haben, das macht für mich keinen Unterschied. Die mentale Anspannung ist so groß, dass ich immer erst meinen Kopf runterfahren und zur Ruhe kommen muss.
SZ: Sollen wir zum Schluss noch mal die Frage nach der Nummer eins im deutschen Tor stellen?
Adler: Ich würde immer noch das Gleiche sagen: dass es noch weit über ein halbes Jahr bis zur WM ist, und dass man zuletzt bei der Erkrankung von Robert Enke wieder gesehen hat, wie schnell alles gehen kann. Ich werde mich nur auf mich selbst konzentrieren.