Trainer, Entdecker, Mentor: So hat Rüdiger Vollborn aus René Adler die Nummer eins im deutschen Tor gemacht
Es ist ein außergewöhnliches Gespann: Vor neun Jahren entdeckte Rüdiger Vollborn den heutigen Fußball-Nationaltorhüter René Adler (24 Jahre) in Leipzig. Wie einen Ziehsohn nahm er ihn zu Hause in Leverkusen auf und machte aus dem talentierten Teenager Schritt für Schritt die neue deutsche Nummer eins. Vollborn selbst ist mit 401 Partien im Tor Rekordspieler von Bayer Leverkusen. Der 46 Jahre alte gebürtige Berliner gewann 1988 den Uefa-Pokal und 1993 den DFB-Pokal. Mit den deutschen Junioren wurde er im Jahr 1981 U-18-Europameister und U-20-Weltmeister.
FRAGE: Gab es eine Kernbotschaft, die Sie René Adler mit auf den Weg in den großen Fußball gegeben haben?
ANTWORT: Vor seinem ersten Bundesligaspiel für Leverkusen im Februar 2007 habe ich ihm gesagt: Zeige den Menschen in Deutschland, was für ein guter Torwart du bist.
FRAGE: Das hat er beherzigt.
ANTWORT: Ich zucke manchmal zusammen, weil ich so überrascht bin, wie gut er hält. Es kommt nur noch selten vor, dass er auf dem Platz anders handelt, als ich es denke.
FRAGE: Empfänden Sie es als Beleidigung, wenn Bundestrainer Löw ihn jetzt nicht für die WM 2010 als Nummer eins vorsähe?
ANTWORT: Der René ist meiner. Er ist mein Zögling, da hat keiner reingepfuscht. Wie er sich präsentiert und im Tor steht, da halte ich ihn natürlich für den Besten. Das heißt nicht, dass ich die anderen Torhüter in der Nationalmannschaft schlechter finde. Alle haben ihre Stärken. Aber wenn wir die Sache realistisch einschätzen, ist René der kompletteste von ihnen.
FRAGE: Sie haben ihn vor neun Jahren in Leipzig entdeckt. Was hat Sie damals auf den ersten Blick an ihm fasziniert?
ANTWORT: Seine Sprungkraft - der war ja eine halbe Stunde in der Luft unterwegs und flog in die Ecken, das war der Wahnsinn.
FRAGE: Sie waren selbst ein guter Torhüter in der Bundesliga - wie viel Rüdiger Vollborn ist in René Adler?
ANTWORT: Ich hatte mir schon mit zwanzig meinen größten Traum erfüllt: ein Mal in der Bundesliga zu spielen. Danach dümpelte ich einige Jahre ziellos herum. Erst als mir mein damaliger Trainer in Leverkusen, Erich Ribbeck, sagte, dies sei zu wenig, wachte ich auf. Ich nahm Gewicht ab, ging zu einer Psychotherapeutin, setzte mich sehr intensiv mit meinem Beruf auseinander und bekam dadurch einen neuen Kick. Vielleicht hätte ich mehr in meiner Karriere erreichen können, wenn ich diese Einsicht früher gehabt hätte. Ich wollte nicht, dass René sein Ausnahmetalent vergeudet.
FRAGE: Ist Adler der vollkommene Vollborn?
ANTWORT: René hat ganz andere Voraussetzungen. Ich hatte auch Talent, aber kann mich nicht mit ihm vergleichen. Da liegen Welten zwischen uns. Ich habe ihm beigebracht, wie das nach meinem Empfinden und aus meinen Erfahrungen perfekte Torwartspiel aussieht. Das hat er verinnerlicht.
FRAGE: Mussten Sie sich in Ihrem Ehrgeiz als Trainer dieses Naturtalents manchmal bremsen?
ANTWORT: Ich habe sehr viel in René hineingelegt. Keiner meiner Söhne hat diese Rundumbetreuung bekommen. Wir haben zusammen gewohnt, trainiert und gelebt. Ich habe ihm mal gesagt, dass er mir dafür nicht dankbar sein muss und das nicht für mich alles auf sich nehmen braucht. Es gab da Phasen, in denen ich zu viel Druck aufgebaut habe.
FRAGE: Was haben Sie ihm vorgegeben, als Sie ihn mit 15 Jahren zu Hause aufnahmen und mit der Torwart-Ausbildung begannen?
ANTWORT: Ich ließ ihn zuerst einen Zettel ausfüllen. Ich wollte sehen, welche Ziele er hat. Da kamen erstmal sehr niedliche Dinge heraus: Er wollte Stammtorwart der B-Jugend von Bayer und dann Jugendnationaltorwart werden - aber das war doch klar. Ich habe ihm dann meine Ziele aufgeschrieben. Da stand, er sollte in der Saison 2006/2007 erster Torwart in Leverkusen werden, 2008 als dritter Torwart zur Europameisterschaft fahren und bei der Weltmeisterschaft 2010 die Nummer eins für Deutschland sein. Diesen Zettel hat er sich in sein Zimmer gehängt und ist jeden Tag an ihm vorbeigelaufen. Und so falsch lag ich bisher nicht.
FRAGE: Wovon mussten Sie ihn am meisten überzeugen?
ANTWORT: Er hat zuerst nicht an seine Fähigkeiten geglaubt. Ich musste ihn überzeugen, dass er die Ziele erreichen kann, wenn er sich intensiv damit beschäftigt. Ich habe immer hinter ihm gestanden und gesagt, mach so weiter. Gerade in negativen Phasen ist es wichtig, jemanden zu haben, der einem sagt, dass die Dinge, die man schon lange macht, immer noch gut sind. Ich selbst habe als Torwart zu oft alles über den Haufen geworfen und mein Training komplett verändert, wenn ich mal zwei Wochen schlecht gehalten habe. René ist mir da gefolgt, natürlich auch, weil meine Voraussagen eingetroffen sind.
FRAGE: Ihr Zögling wirkt auf dem Platz gelassen, fast zurückgenommen und gar nicht so wie diese Alphatier-Vorbilder der großen deutschen Torwartschule.
ANTWORT: Ich bin ein Verfechter des Nicht-Egos. Ich mag nicht, wenn sich der Torwart über alles stellt. Meine Torhüter sollen Mannschaftsspieler sein, auch wenn sie Alleinkämpfer sind. Ich mag keine Großkotze. Das ist wie in der Gesellschaft, wo mir zu oft die Ellbogen ausgefahren und zu selten die Gemeinsamkeiten betont werden. Mit gegenseitiger Unterstützung kann doch insgesamt viel mehr erreicht werden. Das habe ich auch René für seinen Weg mitgegeben.
FRAGE: War es für Sie schwierig, als er 2004 bei Ihnen zu Hause auszog und begann, sich auf eigene Beine zu stellen?
ANTWORT: Ein Stück der Verantwortung war damit für mich weg. Ich war gespannt, wie er sich losstrampeln würde. Unser Kontakt war nicht mehr so intensiv. Aber dann kam 2006 seine schwere Rippenverletzung, und er zog nochmal kurz bei uns ein. Das war ganz schlimm. Er wurde von einigen als Simulant hingestellt, weil der Grund der Schmerzen zuerst nicht gefunden wurde. René war am Ende. Wir haben schon darüber nachgedacht, welches Fach er an der Uni studieren sollte. Aber dann wurde der Rippenbruch entdeckt, und nach der Heilung folgte schnell sein erstes Bundesligaspiel.
FRAGE: Wie hart geht er mit sich selbst ins Gericht?
ANTWORT: Er ist ein Perfektionist. Der Druck, den er sich selbst auferlegt, ist fast größer als der von außen. Es war deshalb wichtig, ihm beizubringen, dass er nicht immer unter Spannung stehen darf und kein schlechtes Gewissen haben muss, wenn er sich nicht rund um die Uhr mit Fußball beschäftigt. Er musste lernen, seine Freizeiten außerhalb des Fußballs so zu organisieren, dass sie ihm Freude bereiten. Neuerdings spielt er Golf.
FRAGE: Er sagte gerade in einem Interview, er fühle sich in Bezug auf die mentale Herausforderung wie ein Bobfahrer vor einem Rennen. Kann er sich besonders gut konzentrieren?
ANTWORT: Er ist sehr, sehr tief drin im Tunnel. Das kostet viel Energie. Noch am Tag nach den Spielen ist er platt. Eine gute Konzentrationsfähigkeit laugt aus und kostet einem schon mal vier Kilo pro Spiel. Ich habe es als Torwart damals nicht geschafft, mich jedes Spiel so zu fokussieren, wie er das fast immer schafft.
FRAGE: Was haben Sie beim Russland-Spiel in seinem Gesicht gesehen?
ANTWORT: Pure Anspannung rund um die Augen, da ist nichts mehr, was ihn ablenkt. Da steht einer im Tor, der sich trotz des großen Drucks zeigt und hellwach ist. Da steht keine kleine Maus, sondern ein großer Löwe.
Das Gespräch führte Michael Ashelm.
Text: F.A.S.