Er wurde als ungelenk und nervenschwach kritisiert. Doch STEFAN KIESSLING (25) widerlegt seine Kritiker und glänzt mit bislang acht Saisontreffern. Das überzeugt auch Bundestrainer Joachim Löw.
Der Regen am Samstagmorgen besaß nicht den Hauch einer Chance gegen die sonnige Laune des Stefan Kießling. Es gibt jede Menge Tage im Leben dieses jungen Mannes, da müsste man das Skalpell bemühen, um das Lächeln aus dem Gesicht des Blondschopfs zu operieren. „Ja, ich lache gerne“, gibt er zu, „ich bin wohl das, was man eine Frohnatur nennt.“
Seit Monaten sorgt diese Frohnatur dafür, dass in Leverkusen alle lachen. Zumindest alle, die den ortsansässigen Bundesligisten lieber gewinnen als verlieren sehen. „Tabellenführer – und das jetzt zwei Wochen lang, ein geiles Gefühl“, formulierte Kießling nach dem überzeugend herausgespielten 4:0-Sieg gegen Eintracht Frankfurt, diesem fußballerischen Katz-und Maus-Spiel, das mit Stefan Kießlings 8. Saisontreffer (50. Bundesligator) bereits zwei Minuten nach dem Anpfiff begann.
Spitzenreiter für die nächsten zwei Wochen, die spielfreie Zeit, die für ihn keine mehr sein soll. Die Nominierung durch Bundestrainer Joachim Löw (49) für die Test-Länderspiele gegen Chile (Samstag, 14. November in Köln) und die Elfenbeinküste (Mittwoch, 18. November in Gelsenkirchen) fordern Kießling in ganz besonderem Maße. Denn der Blondschopf verspürt Verantwortung: „Ich will die nicht enttäuschen, die sich die ganze Zeit für mich aus dem Fenster gelehnt haben“, sagt er.
Die Zahl seiner Fürsprecher wuchs stetig seit Saisonbeginn. Kein Wunder nach fünf Toren in den ersten fünf Saisonspielen und der damit verbunden Einstellung dieses Bundesligarekordes. Eine Einladung zu einem der Qualifikations-Länderspiele gab es trotzdem nicht. Rudi Völler (49), Leverkusens Sportdirektor und von 2000 bis 2004 selbst Teamchef der Nationalmannschaft und in dieser Eigenschaft bestens vertraut mit den Problemen der Nominierung, riet seinem Angreifer zur Ruhe: „Lass weiter Tore für dich sprechen, dann kommt alles wie von selbst.“ Gleichwohl ließ Völler keinen Zweifel daran, dass Kießling eine Berufung verdient hätte. Auch Jupp Heynckes (64), Kießlings Trainer, machte keinen Hehl aus seiner Meinung pro Kießling.
Der Spieler selbst hielt sich vornehm zurück: „Ich kann es ja nicht erzwingen. Deshalb gebe ich keinen Kommentar ab“, so seine Standardantwort auf diesbezügliche Fragen. Auf dem Höhepunkt der Diskussion bat er öffentlich darum, nicht mehr mit dem Thema konfrontiert zu werden, er könne ohnehin nichts zur Klärung beitragen.
Ab Dienstagnachmittag kann Kießling in Bonn, wo die Löw-Truppe Quartier macht, mit der Klärung der Frage beginnen, wie es für ihn weitergeht in der Nationalmannschaft. Der letzte Kontakt zwischen ihm und dem Bundestrainer datiert vom Februar 2009, damals durfte er für 22 Minuten beim Länderspiel gegen Norwegen (0:1) in Düsseldorf ran, ein Spiel zum Vergessen, für ihn wie für alle Beteiligten. Es war sein zweiter Einsatz in der Nationalelf, Im März 2007 stand er in Duisburg bei der 0:1-Niederlage gegen Dänemark eine Halbzeit auf dem Platz (kicker-Note 3). Zwei Spiele, zwei Pleiten, „das ist nichts, womit ich angeben kann“, meint Kießling lachend und sagt: „Wenn ich morgen in Bonn einlaufe, dann fühle ich mich als Neuling.“ Schüchterne Zurückhaltung impliziert diese realistische Selbsteinschätzung nicht: „Ich will mich jetzt reinkämpfen!“
Vielen Fachleuten fehlt der Glaube, dass ihm das gelingt. Da ist zunächst die Tatsache, dass Kießling unterschätzt wird, seitdem er mit dem 1. FC Nürnberg auf der Bundesligabühne auftauchte. Zu staksig, zu ungelenk, zu nervenschwach, schimpften die Skeptiker. Die ihn genauer beobachteten, vermerkten bereits damals seine Vorzüge: Vorzügliche Einstellung, nimmermüde Einsatzbereitschaft, taktische Disziplin und Vielseitigkeit. Nach seinem Wechsel zu Bayer spielte er dort auf vier Positionen: als Sturmspitze ebenso wie als Links- und Rechtsaußen, sogar hinter den Spitzen wurde er ausprobiert. Nicht überall überzeugte er spielerisch, doch nie ließ er sich hängen. Es waren die Zeiten, als man den Offensivspieler Kießling vornehmlich über dessen Laufbereitschaft definierte.
Diese Zeiten sind nun vorbei: „Das freut mich mit am meisten, dass ich jetzt durch Tore auf mich aufmerksam machen kann und nicht nur durch die Laufarbeit.“ Die ist freilich immer noch immens, es gibt wohl in der gesamten Liga keinen Stürmer, der so viele Meter macht wie der Leverkusener. „Das ist einfach mein Spiel. Und ich denke, das verlangt der Fußball heute. Wenn ich vom Rasen gehe, will ich immer sagen: Heute habe ich alles getan!“ Dieses Gefühl kann er fast immer, selbst bei spielerisch schwächeren Leistungen, für sich reklamieren. Umso besser für Kießling, dass nun auch noch die Treffsicherheit dazu kommt: „Ich bin vor dem Tor ruhiger geworden, vergebe keine hundertprozentigen Torchancen mehr.“ Große Geheimnisse um seine Form macht er nicht: „Ich habe eben gerade einen Lauf.“
Gehörigen Anteil daran hat ohne Zweifel Trainer Jupp Heynckes. Vom ersten Tag an verband ihn mit Kießling ein unsichtbares Band, erklären kann der Spieler das nicht, „ich fühle mich einfach total wohl. Das Training macht Spaß, die Ansprache ist super, die Atmosphäre stimmt.“
Eine Atmosphäre, in der ein Harmoniemensch wie er auflebt. Und sich vorbereitet auf sein Ziel Südafrika: „Natürlich will ich zur WM. Wenn ich dieses Ziel nicht hätte, könnte ich mir einen anderen Job suchen.“ Dass seine Chancen allenthalben als gering eingestuft werden, kratzt ihn, den Unterschätzten, herzlich wenig. Dass Bundestrainer Joachim Löw in der vergangenen Woche zitiert wurde, mit Gomez und Klose haben man bereits zwei zentrale Stürmer, da mache ein dritter von dieser Sorte wenig Sinn, schreckt ihn auch nicht wirklich. „Ich sehe es so: Mit Klose, Gomez und Podolski stehen drei Stürmer fest. Bleiben also noch zwei Plätze übrig.“ Der Vergleich mit Klose und noch mehr mit Gomez hinkt ohnehin. Kießling agiert noch mannschaftsdienlicher, ist nicht nur zentraler Stürmer: „Meine Vielseitigkeit spricht sicherlich nicht gegen mich.“ Gegen ihn spricht, dass Löw gern auf Altbewährtes setzt und sich zumindest auf Klose und Podolski immer verlassen konnte. Sicherlich wartet er die Entwicklung von Patrick Helmes ab, der in zwei Wochen in München erstmals nach seinem Kreuzbandriss wieder auf der Bank sitzen will. Für Kießling wird letztlich vieles davon abhängen, ob der Bundestrainer den verschlungenen Pfaden weiter folgt, die ihn beispielsweise zur Nominierung des Stuttgarters Cacau führte.
Kießling hat selbst alle Karten in der Hand. Enden die Länderspiele drei und vier wie die ersten beiden, ist der Zug wohl abgefahren. Zeigt er auch im Nationalteam Leverkusener Form, wird Südafrika schnell ein Thema.
FRANK LUßEM
Quelle: kicker-Printausgabe vom 09.11.09