Toni Kroos hat das Glück, das Licht der Welt zehn Jahre nach Sebastian Deisler erblickt zu haben. Wäre er nicht 1990, sondern - wie Deisler - 1980 geboren worden, dann hätten die kollektiven Fantasien Fußballdeutschlands im Vorfeld zur WM 2006 wohl auch seine schmalen Teenagerschultern belastet. Doch inzwischen gibt es wieder einige dieser Kreativfußballer, die auf dem Rasen das Abenteurer suchen, die magische Momente erzeugen können.
Welch ein Glück für Toni Kroos. Im Schatten Podolskis, Marins und Özils kann der 19-Jährige sich Zeit nehmen. Zwar hat Uli Hoeneß, der Präsident des FC Bayern, vor zweieinhalb Jahren veranlasst, dass das Trikot mit der Nummer 10 für den jungen Kroos reserviert wird, dennoch war es dem 19-Jährigen möglich, ohne hysterische Reaktion der Öffentlichkeit zu stagnieren und sich vor einem Jahr aus München nach Leverkusen ausleihen zu lassen.
Skeptiker deuteten diesen Schritt damals als Signal des Scheiterns, doch für Kroos entpuppt sich Leverkusen mehr und mehr als Ort der Befreiung. Unter dem altersmilden Trainer Jupp Heynckes und im Kreis einer menschlich wunderbar harmonierenden Mannschaft blüht er auf. "Eine ungewöhnliche Technik und einen großen Reichtum an Fantasie hatte er schon immer", sagt Heynckes, "aber es gehören auch andere Dinge zu einem großen Fußballer, und die lernt er jetzt gerade."
Toni Kroos profitiert davon, in einem Team gelandet zu sein, wo das gesamte Kollektiv genau an jenen Schwächen arbeitet, die auch sein Repertoire einschränkten: die mangelnde Fähigkeit zum Rhythmuswechsel, das fehlende Gespür für Momente, in denen ein Rückpass die beste Lösung ist und der unterentwickelte Blick für die richtigen Laufwege in der Defensive.
All diese stabilisierenden Elemente des Fußballsports sind nun - nach einem halben Jahr unter Jupp Heynckes - zu sehen. Bei Kroos und bei Bayer. "Wir haben alle Spaß, hier lässt es sich wunderbar Fußball spielen", sagt der gebürtige Rostocker, dem im Moment nur noch die Konstanz fehlt. Nach einer Weltklasseleistung vor zwei Wochen gegen den VfB Stuttgart (4:0) passte Kroos sich vorige Woche in Hannover (0:0) dem mäßigen Niveau des Leverkusener Gesamtauftritts an. Dennoch sind sie in der Chemiestadt längst überzeugt von den Qualitäten des Mittelfeldspielers, der laut seines Arbeitspapiers im kommenden Sommer nach München zurückkehren soll. Vertraglich ist Kross bis 2012 an den FC Bayern gebunden.
Allerdings hat Leverkusens sportliche Leitung längst beschlossen, dass sie versuchen wird, Toni Kroos länger zu halten als bis zum Sommer. "Für seine Entwicklung wäre es sicher von Vorteil, wenn er bleiben würde, mit 21 Jahren kann er ja immer noch nach München gehen", sagt Heynckes und Sportdirektor Rudi Völler meint: "Wir werden im Frühjahr das Gespräch mit den Bayern suchen." Auf Münchner Seite scheint das Interesse an solchen Verhandlungen aber nur gering zu sein. "Toni wird nächstes Jahr zu uns zurückkehren und dann ein wertvoller Spieler für den FC Bayern sein", hat Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge vorige Woche auf der Jahreshauptversammlung gesagt. Ob das allerdings nur der erste Teil des Verhandlungspokers war oder tatsächlich eine kategorische Forderung, ist derzeit nicht zu ergründen.
Jupp Heynckes reagiert auch in diesem Fall mit der erstaunlichen Gelassenheit, die sein gesamtes Handeln in Leverkusen prägt. "Auf so einer Jahreshauptversammlung muss man den Leuten ja ein paar Bonbons hinwerfen", sagt er, und fügt an: Bevor Kroos nach München zurückkehrt "sollte man den Toni doch erstmal selber fragen, was er will". Das haben die Leverkusener natürlich längst getan, und sie haben sich über die Antwort gefreut.
Zwar behauptet Kroos, sich über diese Frage "im Moment keine Gedanken" zu machen, der Aussage Rummenigges entgegnet er allerdings: "Für mich ist da noch gar nichts entschieden". Und Teamkollege Stefan Kießling verkündet offen, was Toni Kroos nicht laut sagen will. "Wir als Mannschaft würden ihn sehr gerne länger hier haben, und er selber wünscht sich ja auch, dass er hier bleiben kann."
Berliner Zeitung von heute