Quelle: Spiegel online
Herbstmeister Leverkusen
Titelträume statt Titeltrauma
Von Jens Witte
Ungeschlagene Nummer eins: Trainer Jupp Heynckes hat in Leverkusen das beste Team der Hinrunde geformt. Einen Einbruch nach der Winterpause befürchtet er nicht - mit voller Konzentration auf die Bundesliga und mit einigen Rückkehrern könnte dieses Bayer-Team "Vizekusen" vergessen machen.
Hamburg - Bayer Leverkusen machte ihn noch einmal spannend, den Kampf um den inoffiziellen Titel der Herbstmeisterschaft. Doch am Ende zitterte sich die Mannschaft von Trainer Jupp Heynckes zu einem knappen 3:2-Erfolg gegen Borussia Mönchengladbach - und an Felix Magaths Schalkern vorbei zurück an die Tabellenspitze der Fußball-Bundesliga.
Toptorjäger Stefan Kießling nahm beim Abpfiff den Ball in beide Hände, drosch ihn in die Höhe und riss seine Arme nach oben: Die Erleichterung war groß in Leverkusen. Die vergangenen beiden Partien, Unentschieden gegen Abstiegskandidaten Hannover und Hertha, weckten Erinnerungen an die Hinrunde der vergangenen Saison. Auch damals war Bayer stark in die Saison gestartet, dann aber eingebrochen.
Doch die Partie gegen Gladbach zeigte exemplarisch, dass das Team seitdem einen enormen Reifeprozess durchlaufen hat: Es ist so stabil, dass es sich auch von einem Rückstand nicht aus der Ruhe bringen lässt. "Mich hat am meisten begeistert, dass wir noch gewonnen haben. Wir haben gut angefangen, dann nachgelassen. Aber am Ende haben wir das Ding wieder gekippt", sagte Spielmacher Toni Kroos, der mit seinen beiden Treffern entscheidend zum Sieg beitrug. Coach Heynckes freute sich vor allem über den "Charakter meiner Mannschaft, die demonstriert hat, dass wir oben bleiben wollen".
Beste Abwehr, stärkster Angriff
Den Grundstein für den Erfolg legten die Bayer-Verantwortlichen um Sportdirektor Rudi Völler in der Sommerpause durch kluge Transferpolitik: Mit Heynckes, 64, kam ein überaus erfahrener Trainer. Innenverteidiger Sami Hyypiä, 36, gibt der Leverkusens Hintermannschaft das, was in der vergangenen Saison am meisten fehlte: Stabilität.
Das Ergebnis des Transfers spricht für sich: Lediglich 13 Gegentreffer hat Bayer bislang kassiert, so wenige wie sonst nur noch der Tabellenzweite, Schalke 04. An der Seite von Hyypiä spielt Manuel Friedrich deutlich stärker als in den Jahren zuvor. Die beiden Innenverteidiger lassen nur wenige Chancen des Gegners zu - fast schon ärgerlich für Nationaltorhüter René Adler, der sich seltener auszeichnen kann als früher.
Doch nicht nur in der Hintermannschaft ist Ruhe eingekehrt. De gesamte Mannschaft agiere nun "ruhiger, überlegter und nicht mehr so ungestüm", analysiert der verletzte Kapitän Simon Rolfes. Trotz dieser kontrollierteren Spielweise ist kein anderes Team so torgefährlich wie Bayer: 35 Treffer erzielten die Leverkusener, allein zwölf davon Stefan Kießling - auch das ist der Liga-Topwert. Eine weitere Stärke: Standardsituationen. Fast die Hälfte aller Tore machten Kießling, Kroos und Co. Nach Freistößen oder Eckbällen.
Rolfes macht für die gesamte Entwicklung auch Heynckes' "große Führungsstärke, seinen idealen Mittelweg zwischen Kompromisslosigkeit und Menschlichkeit" verantwortlich. Er fordere viel von seinen Spielern, belohne aber auch Leistung - so gibt es für die Herbstmeisterschaft vier Tage Sonderurlaub, die Mannschaft muss erst am 2. Januar wieder zum Training antreten.
Dieser Führungsstil scheint besonders bei den jungen Spielern im Team anzukommen: Bayern-Leihgabe Kroos, 19, führt Regie im Mittelfeld, kam bei allen 17 Partien zum Einsatz und hat bereits sechs Tore erzielt. Die Defensivakteure Daniel Schwaab, 21, und Stefan Reinartz, 20, überzeugten ebenfalls und erkämpften sich einen Platz in der Startelf.
Hinrunde ohne Niederlage
Leverkusen hat die Hinrunde mit 17 Spielen ohne Niederlage beendet, neun Siege, acht Remis. Das ist in der Bundesliga-Geschichte zuvor nur zwei Clubs gelungen: dem Hamburger SV in der Saison 1982/83 und dem FC Bayern München in der Saison 1988/89. Beide Teams feierten anschließend die Meisterschaft.
Bayer beendete bereits einmal eine Hinrunde auf dem ersten Platz, in der Saison 2001/2002. An deren Ende hatte sich der Spitzname "Vizekusen" etabliert: Zweiter in der Meisterschaft, im DFB-Pokal und in der Champions League.
Die Perspektiven für die kommende Rückrunde scheinen dennoch gut: Bayer, im Pokal ausgeschieden und für den Europapokal gar nicht erst qualifiziert, kann sich auf die Bundesliga konzentrieren. Und: "Wenn unsere Verletzten wieder zurück sind, dann haben wir wieder mehr Alternativen qualitativer Art", sagt Heynckes. Mit dieser Einschätzung dürfte er richtig liegen. Rolfes, der Chef im Mittelfeld, fehlt seit Wochen wegen einer Knieverletzung. Gleiches gilt für den Brasilianer Renato Augusto, der nach seiner Rückkehr das spielerische Niveau der Mannschaft noch steigern sollte. Zudem wird Patrick Helmes wieder angreifen. Der Nationalstürmer fiel fast die komplette Hinserie wegen eines Kreuzbandrisses aus.
Gute Aussichten also, das Titeltrauma zu besiegen?
Heynckes sagt zwar, dass man aufgrund der Mannschaftsmoral "nicht darüber nachdenken muss, dass wir in der Rückrunde nachlassen könnten". Vom Titel sprechen möchte er aber noch nicht: "Wir haben unser Saisonziel ausgegeben: internationaler Wettbewerb. Das werden wir jetzt auch nicht ändern."
Aber: Diesen Satz hat man auch schon in der vorigen Saison oft gehört. Von Felix Magath, dem späteren Meistertrainer.