Donnerstag, 14.01.2010
Schluss mit Vizekusen
Bayer Leverkusen geht zum zweiten Mal nach 2001/2002 als Herbstmeister in eine Bundesliga-Rückrunde. Platz fünf ist Minimalziel, doch zwischen den Zeilen sprechen Spieler und Trainer auch vorsichtig von der Meisterschaft. Ist der Titel realistisch?
Jupp Heynckes ist ein alter Hase und kein Mann für verrückte Sachen. Die Vorbereitung war kurz, ein Trainingslager wollte der Bayer-Coach deshalb nicht absolvieren. So bat er seine Spieler am 2. Januar, also genau 14 Tage vor Rückrundenstart, ungewöhnlich spät auf den eisigen Trainingsplatz in Leverkusen.
Nur nicht verrückt machen lassen, lautet die Devise. Sachlich weiter arbeiten, wie in der Vorrunde. Nach 17 Spielen ohne Niederlage geben sich Spieler und Trainer vor dem Rückrundenauftakt gegen Mainz 05 (Sa., 15.30 Uhr im LIVE-TICKER und bei SKY) betont selbstbewusst - auch wenn ein Stück Verunsicherung bleibt.
"Das Potenzial für einen Platz ganz oben haben wir", sagt Kapitän Simon Rolfes, spricht aber auch die notorische Rückrundenschwäche an: "Für Träumereien ist derzeit kein Platz, dafür haben wir alle bei Bayer zu viel erlebt."
SPOX hat Leverkusens Titeltauglichkeit anhand von fünf Thesen untersucht.
These 1) Drei Stürmer sind für den Titelkampf zu wenig.
Bayer hat in der Winterpause mit Theofanis Gekas (Hertha BSC) und Richard Sukuta-Pasu (FC St. Pauli, ausgeliehen) zwei Stürmer abgegeben. Bleiben also nur noch Stefan Kießling, Eren Derdiyok und der wiedergenesene Patrick Helmes.
Zu wenig für den Titelkampf? Mitnichten. So paradox es klingen mag: Da Gekas in der Hinrunde nur magere 143 Minuten zum Einsatz kam und Sukuta-Pasu gar nicht, hat Bayer mit Helmes nun eigentlich sogar einen Stürmer mehr.
Zudem steht als absoluter Notnagel der A-Jugendliche Pierre-Michel Lasogga bereit.
Sollte dennoch mal ein oder gar zwei Mann ausfallen, kommt Heynckes' Bank im Notfall auch ohne einen Angreifer aus, weil er das Spielsystem mit Toni Kroos, Renato Augusto und Tranquillo Barnetta auch auf 4-5-1 umstellen kann, ohne damit an Offensivkraft einzubüßen.
Zum anderen hat Bayer "nur" noch 17 Spiele, keine Doppel- oder Dreifachbelastung mehr.
Im Übrigen ist in nicht all zu ferner Vergangenheit schon mal eine Mannschaft mit nur drei Angreifern Meister geworden: Der FC Bayern 2007/2008 mit Luca Toni, Miroslav Klose und Lukas Podolski (Jan Schlaudraff kam nur wenige Minuten zum Einsatz).
These 2) Bayer spielt so defensiv wie noch nie.
Auch wenn in der Hinrunde meist Leverkusens Offensive (35 Tore) im Fokus stand: Nur 13 Gegentore sind ebenfalls Liga-Bestwert. Das liegt hauptsächlich an der konsequenten Defensiv-Arbeit der Werkself, die vor allem im Zentrum hervorragend steht und extrem ballorientiert verteidigt.
Nach Bruno Labbadia, der im Mittelfeld mit einem Sechser und drei Offensiven spielen ließ, führte Heynckes die Doppel-Sechs ein, die der Werkself in der Rückwärtsbewegung deutlich mehr Sicherheit verlieh.
Zusammen mit den Innenverteidigern Sami Hyypiä und Manuel Friedrich ließen die zwei defensiven Mittelfeldspieler kaum einen Spielzug durch die Mitte zu. In Heynckes' 4-4-2 denken eigentlich immer sechs Mann (plus Torwart) defensiv - das spürt man.
Zum zweiten ist Heynckes auch während des Spiels immer zuerst auf die defensive Absicherung bedacht, wechselte in der Hinrunde sogar fast immer defensiv - von 46 Wechseln in den ersten 17 Spielen waren nur fünf offensiv motiviert (also Stürmer für Mittelfeldspieler, beispielsweise).
These 3) Jupp Heynckes hat ein Luxusproblem.
Stimmt. Mit den zurückkehrenden Langzeitverletzten Michal Kadlec, Simon Rolfes, Renato Augusto und Patrick Helmes hat Bayer quasi vier Neuzugänge, die auf Einsatzzeit pochen werden. Außer Kadlec müssen sich die anderen erstmal hinten anstellen, sind aber schon bald wieder voll im Saft.
Kapitän Rolfes ist gesetzt, sobald er wieder auf der Höhe ist. Stefan Reinartz müsste dann weichen. Gleiches sagt Heynckes über Helmes: "Wenn er hundertprozentig fit ist, wird er Stammspieler." Eine überraschende Aussage, stellte Derdiyok bislang doch die perfekte Ergänzung zu Kießling dar, weil auch der Schweizer viel läuft und Defensivarbeit verrichtet.
Stefan Kretzschmar, Bundesliga, Tippspiel
Spielen Kießling und Helmes, war es in der Vergangenheit immer so, dass Kießling den arbeitenden Stürmer gab und Helmes in vorderster Front die Tore erzielte. Fraglich, ob Kießling den Torjäger-Status kampflos wieder aufgeben wird.
Zudem bevorzugte Heynckes bisher immer die Variante mit zwei großen Stürmern (Kießling: 1,91 m / Derdiyok: 1,90 m), um das Mittelfeld auch mal mit langen Bällen überbrücken zu können. Helmes (1,82 m) ist nicht ganz so kopfballstark und nicht so konterstark wie seine Konkurrenten.
These 4) Sami Hyypiä ist der heimliche Star und unersetzbar.
Der Finne ist ohne Frage der Erfolgsgarant des Teams. Sami Hyypiä stand in der Liga nur 17 Minuten nicht auf dem Platz - das reichte, um gegen Schalke 04 zwei Gegentore zu kassieren. Als Hyypiä im Pokal pausierte, schied Bayer gegen Zweitligist Kaiserslautern aus (1:2). Der 36-jährige Innenverteidiger ist unersetzbar für Leverkusen.
Nach nur 17 Spielen ist Hyypiä der absolute Abwehrchef - und dass, obwohl er Zweikämpfen und Laufduellen aufgrund seiner fehlenden Schnelligkeit lieber aus dem Weg geht. Das macht er aber durch perfektes Stellungsspiel und Timing wieder wett. Seine Zweikampfbilanz ist mit unter 60 Prozent durchschnittlich, die Anzahl der eroberten und geklärten Bälle aber Liga-Spitze.
Zudem ist Hyypiä für die Spieleröffnung Gold wert, da er neben dem Kurzpass ins defensive Mittelfeld auch den Diagonalball auf die Außen perfekt beherrscht und viele Angriffe von hinten einleitet. Der Finne spielte bei Bayer mit Abstand die meisten Pässe pro Spiel (über 50) und ist im Luftkampf beinahe unbezwingbar.
"Über Sami brauchen wir gar nicht zu diskutieren, das ist Weltklasse, was der da spielt", lobte Nebenmann Friedrich den Finnen in einem Interview mit dem "Leverkusener Anzeiger". "Mit 36 Jahren so fit da her zu kommen und so da zu stehen, das ist einmalig. Er macht immer alles richtig. Er hat einen Riesenanteil daran." Nicht umsonst wurde Hyypiä vom "Kicker" zum besten Innenverteidiger der Hinrunde gewählt.
Selbst Friedrich spielt neben Hyypiä zwei Klassen besser, die Abstimmung passt perfekt. Die Kehrseite: Die Kombination Hyypiä/Friedrich ist derart unverzichtbar, dass Bayer sofort Probleme bekommt, sollte einer der Innenverteidiger ausfallen. Lukas Sinkiewicz und der junge Stefan Reinartz haben sich bisher jedenfalls noch nicht als brauchbare Alternativen angeboten.
These 5) Bayer ist zu grün für den Titel.
"Es gibt nicht viele Teams in der Liga, die ähnlich aufgestellt sind", sagt Friedrich selbstbewusst. Und Adler meint: "Wir haben keine Angst vor dem Wort Meisterschaft. Wir werden Platz eins mit Händen und Füßen verteidigen."
Wenn eine Mannschaft die Hinrunde ohne Niederlage abschließt, dabei die meisten Tore schießt, den Top-Torjäger stellt und die wenigsten Gegentore kassiert, ist sie normalerweise der Titelfavorit Nummer eins. Und dann gibt es da noch Bayer Leverkusen. Nahezu berühmt berüchtigt sind die Einbrüche nach der Winterpause und das "Vizekusen"-Image. Auch dieses Mal?
"Kann man nie wissen", sagt Friedrich im "Leverkusener Anzeiger". "Aber es ist so, dass wir jetzt in der BayArena bleiben und nicht nach Düsseldorf müssen, was uns in der letzten Saison das Genick gebrochen hat." Außerdem ist die Bank besser besetzt als im Vorjahr. "Die ersten 18 Spieler sind jetzt sehr gut, sodass man auch viele Spiele von der Bank aus entscheiden kann", meinte Helmes im "Kicker".
Sicher, mit Adler (24), Castro (22), Reinartz (21), Schwaab (21), Augusto (21), Barnetta (24), Kroos (20), Vidal (22), Bender (20) und Derdiyok (21) ist der halbe Kader noch grün hinter den Ohren, spielt aber auch schon zum Großteil seit zwei Jahren zusammen und verfügt über internationale Erfahrung. Bei Heynckes gilt das Leistungsprinzip, heißt: "Wenn ein junger Spieler besser ist als ein älterer, dann spielt eben der junge."
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"Und dann haben wir eben diesen Trainer mit der großen Erfahrung - er ist ein bisschen Garantie dafür, dass das nicht mehr passiert", ergänzt Friedrich. Heynckes ist saisonübergreifend sogar seit 22 Spielen ohne Niederlage und jagt seinen eigenen Rekord aus der Saison 88/89 mit dem FC Bayern (23).
Der Trainer wird nicht müde zu betonen, dass Bayer trotz neun Remis in der Hinrunde zu Recht auf Platz eins steht. Heynckes: "Wir dürfen selbstbewusst in die Rückrunde gehen. Und ja, es wird schwierig sein, uns von da oben wegzuholen."