In Mainz war ANDRÉ SCHÜRRLE (20) Teil der „Boygroup“. In Leverkusen präsentiert sich der Jungnationalspieler gereifter. Gegen Genk sind seine Tore gefragt.
Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit, Entsetzen, Unverständnis – ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Es ist ein Foto, das André Schürrle in dem Moment zeigt, in dem er von Schiedsrichter Günther Perl die Rote Karte präsentiert bekommt, im Derby gegen Köln, in der Nachspielzeit nach einem überflüssigen Foul, das ihm letztlich zwei Spiele Sperre einbringt, zwei Gelegenheiten weniger, endlich das erste Bundesligator für seinen neuen Klub zu erzielen. 15 Tore waren es in der vergangenen Spielzeit für Mainz 05. So viele Treff er hatte seit Jürgen Klinsmann kein Spieler unter 21 Jahren mehr in einer Saison erzielt, die rund acht Millionen Euro Ablöse, die Bayer für Schürrle auf den Tisch des Hauses legte, sind im deutschen Fußball für einen 20-Jährigen eine absolute Ausnahme.
In Leverkusen sind sie überzeugt davon, trotzdem ein Schnäppchen gemacht zu haben. „André ist heute viel, viel mehr wert, wir könnten ihn wohl nicht mehr bezahlen“, sagt Sportdirektor Rudi Völler, widersprechen mag ihm keiner. Der Transferwert des Nationalspielers (vier Tore in acht Länderspielen) wird mittlerweile auf rund 15 Millionen Euro taxiert und die Tatsache, dass er für Bayer spielt und nicht für die Bayern, gilt als Beleg für die These, dass nicht immer die Großen die Kleinen fressen, sondern immer häufiger die Schnellen die Langsamen.
Früh, sehr früh setzte sich Bayers Scoutingabteilung um Manager Michael Reschke mit dem Thema Schürrle auseinander. Und weil man den jungen Mann peinlich genau unter die Lupe nahm, ist jeder in Leverkusen davon überzeugt, dass sich Mehrwert bald auch in Form von Toren einstellen wird, nicht nur bei fiktiven Ablösesummen. Dass es bislang nicht klappte, schreibt man der Instabilität des Gesamtgebildes zu. Neuzugänge leiden darunter naturgemäß mehr.
Die nächste Chance ergibt sich bereits am Mittwoch. Der in der Liga gesperrte Angreifer will die Champions League rocken. Wie man gegen Genk siegt, zeigte Bayer bereits am 23. Juli, als der Belgische Meister in einem Test mit 4:1 geschlagen zurück in die nur 120 Kilometer nahe Heimat geschickt wurde. Schürrle erzielte seinerzeit das 1:0, Derdiyok komplettierte nach dem Ausgleich mit einem Hattrick das Ergebnis.
Dass trotz der aktuellen Torlosigkeit niemand in Leverkusen Zweifel an der Verpflichtung des Jungstars hegt, liegt schlicht und einfach darin begründet, dass der in Ludwigshafen geborene Blondschopf schon in kurzer Zeit viele Pluspunkte sammeln konnte. Da ist zunächst das Sportliche: Schürrle ist blitzschnell, und wenn er ins Laufduell geht, dann sieht das mitunter so aus, als liefe der Gegenspieler rückwärts, Schürrle schießt beidfüßig, Schürrle ist trickreich, Schürrle ist diszipliniert. Da ist aber auch das Persönliche: Er ist noch keine 21 – und wirkt reif und überlegt. Er ist höflich und hebt sich um Welten ab von den Selbstdarstellern, die dem Boulevard ihre Tattoos erklären und sich den Torjubel schon vor dem Treffer überlegen, den sie dann im Zweifelsfall nie erzielen. Dass der „Boygroup“-Jubel, den er in Mainz mit den Kollegen Holtby und Szalai zelebrierte, passé ist, machte Schürrle schnell jedem Frager klar: „Ich denke, das ist hier nicht erwünscht!“ Gut aufgepasst! Schürrles Boss, Rudi Völler, mag es beim Jubeln in der Tat eher puristisch . . .
Die Disziplin verdankt er der Tuchel-Schule. Der Mainzer Coach, schon in der A-Jugend mit Schürrle Deutscher Meister, begriff früh, was für gewaltiges Talent in dem Jungen steckt. Hakte es trotz aller Bereitschaft, schritt er ein und brachte den Jungen auf Kurs: „Er hat mir deutlich gemacht, was er von mir verlangt, was besser sein muss. Das hat mir geholfen, wieder klar im Kopf zu werden.“ Es waren die Zeiten, als er eher sich sah und den persönlichen Erfolg, als er „Boygroup“ spielen wollte und nicht mehr nur für das Team. Heute sagt er: „Ich habe Fehler gemacht. Aber die Gespräche mit dem Trainer haben mich richtig weitergebracht. Dadurch bin ich gereift.“
Diese Karriere im Schnelldurchlauf verlangte ihm in der Tat eine Menge ab. Dinge über sich lesen zu dürfen (und müssen), von denen jeder junge Fußballer träumt (oder eben nicht) – auch das will erst einmal verkraftet werden. Plötzlich erhalten Fragen Gewicht, die man sich nie zu stellen wagte: Wie begrüßt man eigentlich einen Routinier wie Bastian Schweinsteiger, wenn man sich zum ersten Mal bei der Nationalelf trifft? Schürrle umschiffte die Klippen ohne Dellen, profitierte von seinem funktionierenden Umfeld und gilt heute als etabliert.
Talentiert genug für die europäische Spitze sah ihn einst Thomas Tuchel. Ein schönes Lob! Schürrle will es bestätigen. Und täte gut daran. Denn es kann nichts anderes geben als drei Punkte. Die Niederlage beim FC Chelsea, so ehrenvoll sie eingeschätzt wurde, bleibt eine Niederlage. Für Gruppenplatz zwei aber sind Punkte nötig, sechs gegen Genk sind eingeplant. Am Mittwoch sollten die ersten eingefahren werden. Gelingt das nicht, dann wird es keine Bilder brauchen. Dann ist das Szenario klar in Leverkusen: Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit, Entsetzen, Unverständnis. Nicht nur bei André Schürrle.
FRANK LUßEM
Quelle: kicker-Printausgabe vom 26.09.11