Kontakte statt Konzepte, Ratschläge annehmen, auf die Mannschaft hören. Umdenken beim BAYER-TRAINER – mit Erfolg.
Gerade hatte Eren Derdiyok sein wunderschönes Fallrückziehertor erzielt („Der schönste Treffer meiner Karriere!“), da hielt den Stürmer nichts mehr. Wie berauscht riss er sich das Trikot vom Leibe, rannte Richtung Trainerbank und fiel Dr. Holger Broich in die Arme. Sekunden später hatte sich ein ganzes Spielerknäuel um den Mann geschart, der in Leverkusen für Konditionstraining, Leistungsdiagnostik und Trainingssteuerung zuständig ist.
Dass es Broich traf, war Zufall. Derdiyok wollte – wie vorher der Kollege Castro – zu Renato Augusto, fand diesen aber nicht. Also nahm er sich den vor, der am nächsten stand – eben Broich.
Keine Demonstration also – und doch spielt der Name eine Rolle in der jüngsten Entwicklung bei Bayer. Broich ist ein anerkannter Fachmann in seinem Bereich, begehrt in der Liga (die Bayern hätten ihn gerne geholt), beliebt ob seiner ruhigen Art. Gleichwohl war sein Rat seit der Amtsübernahme von Robin Dutt nicht mehr in gewohntem Maße gefragt. Dutt und seine Co-Trainer Damir Buric und Marco Langner nahmen die Sache in die Hand und leisteten damit ungewollt einen zusätzlichen Beitrag zur Verschlechterung der allgemeinen Situation. Alte Zöpfe abschneiden, eigene Ideen einbringen – die Sache geriet dem Trio etwas aus der Balance. Bis zur vergangenen Woche.
In eindringlichen Gesprächen wurde dem Trainer klargemacht, auf welch dünnem Eis er sich bewegte. Wie wichtig gute Stimmung in einem Kader ist, dem gute Fußballer angehören. Und es scheint, als habe Dutt die Kurve gekriegt, gelernt, dass Leverkusen nicht Freiburg ist, Kontakte wichtiger sein können als Konzepte und es mit einem Totalschaden enden kann, wenn man versucht, den Dickkopf durchzusetzen.
Dutt bewegte sich! In Richtung Spieler, in Richtung Verein. Die Maßnahme, gegen Wolfsburg mit Derdiyok und Kießling zu spielen, entsprang dem Wunsch der Spieler. Ebenso die Bitte, Holger Broich wieder mehr in die Trainingsarbeit einzubeziehen, der seitdem in Absprache mit Dutt die grundlegenden Inhalte der Trainingssteuerung wieder bestimmt.
Dutts Maßnahmen griffen, die Stimmung verbesserte sich schlagartig, ebenso die Leistung. Ein kluger Schachzug des Trainers, der damit der Mannschaft signalisierte, wie ernst er sie nimmt, dass er fähig ist, Signale zu erkennen und auf Entwicklungen zu reagieren. Die Mannschaft dankte es mit einer „gut gelaunten“ Leistung; was gegen Genk noch wackelte, stand gegen Wolfsburg schon auf viel massiverem Fundament. Doch bisher wurde nicht mehr als der Fehlstart verhindert. Um ganz nach oben zu kommen, muss Bayer an Konstanz zulegen. Den angestrebten Spitzenplatz zu erreichen wird indes schwierig. Viele Konkurrenten mischen mit, mehr als in der vergangenen Saison. Da sollte man nicht zu viele Punkte liegen lassen. Und Missverständnisse frühzeitig ausräumen.
KOMMENTAR
Der doppelte Holzhäuser
Gibt es zwei Wolfgang Holzhäuser? Die Frage stellt sich seit der vergangenen Woche. Was er sich zuerst einfallen ließ, sei dahingestellt. Tatsache ist: Auf Seite 18 der Stadionzeitung von Bayer Leverkusen ließ er den Leser teilhaben an seinen Gedanken zum Thema Burn-out. Dieser könne jeden treffen, so Holzhäuser, den Lehrer, den Schlosser, den Top-Manager, doch im Profi-Fußball käme als „Kraft-Verstärker“ noch die „Emotion“ dazu. Geschürt von Fans und Medien werde nicht selten mit „ganz persönlicher und wenig sensibler Leistungskritik“ Druck auf die Protagonisten ausgeübt. Direkte Angriffe trügen mit dazu bei, dass die Situation für Betroffene noch unerträglicher wird. Weil dem so ist, schreibt Holzhäuser: „Schwarz-Weiß-Denken führt zur Ausweglosigkeit. (...) im Misserfolg danach schauen, was denn noch gut war, das könnte zur Entkrampfung führen.“
Der andere Wolfgang Holzhäuser hatte seine Kolumne entweder nicht gelesen oder (noch) nicht geschrieben, als er den Profi Renato Augusto am Mittwoch als „Alibi-Fußballer“ bezeichnete. Eine derbe, öffentliche Kritik, von der Holzhäuser auch Samstag nicht abrückte: Ein Chef müsse das Recht haben, einen Spieler zu kritisieren.
Soll er ja. Aber muss es denn gleich Stammtisch sein? Bei einem Spieler, der sich nichts zuschulden kommen ließ außer schlechter Leistung? Die Kollegen, allen voran der stille Gonzalo Castro, gaben die Antwort, solidarisierten sich mit Renato Augusto. Der übrigens völlig zu Recht auf der Bank saß. So viel Kritik muss sein.
FRANK LUßEM
Quelle: kicker-Printausgabe vom 04.10.11