"Wir werden nicht in Ehrfurcht erstarren"
10.08.2007
FRAUENHANDBALL / Zweitligist TV Nellingen will sich gegen Vizemeister Leverkusen achtbar aus der Affäre ziehen
Handballerinnen im Reisestress: Für den Deutschen Rekordmeister Bayer Leverkusen heißt es am Wochenende "Augen zu und durch." Von der Autobahn aufs Spielfeld und wieder zurück auf die Autobahn. Nach der Anreise vom Testspiel in Duisburg trifft die Mannschaft von Renate Wolf morgen Abend in Lenningen auf den TV Nellingen (18 Uhr). Danach geht es direkt weiter ins Trainingslager nach Saarbrücken.
KIRCHHEIM Sie nennen sie liebevoll "Chefchen", dabei gibt es wohl keine Frau im bezahlten Handball, die fester die Zügel in der Hand hält als sie. Renate Wolf ist die unumstrittene Chefin beim Deutschen Vizemeister Bayer Leverkusen, daran gibt es keinen Zweifel. Neun Meistertitel feierte die Diplom-Sportlehrerin in ihrer aktiven Zeit, acht davon mit dem Bayer-Kreuz auf der Brust. Dazu kommen acht Pokalsiege, der Europacup der Landesmeister und 96 Länderspiele. Da kann man schon mal den Überblick verlieren, was kommende Gegner anbelangt. TV Nellingen? "Moment mal", sagt Renate Wolf und bittet um Bedenkzeit. "Vor drei Jahren war das, bei einem Turnier in Allensbach am Bodensee." An das Ergebnis kann sie sich nicht mehr erinnern, das macht auch nichts. Das Ergebnis, meint sie, ist auch am Samstag in Lenningen nicht von Bedeutung. "Es geht darum, uns einzuspielen und jedem Mannschaftsteil ausreichend Spielzeit zu geben."
Seit Monatsbeginn erst trainiert die Mannschaft mit Ball. Davor lagen schweißtreibende Wochen mit abschließender Leistungsdiagnostik an der Uni Bochum. Eine Schinderei, die geeignet war, das enttäuschende Saisonfinale aus den Köpfen zu streichen. Trotz eines Fünf-Tore-Vorsprungs im Hinspiel des Play-off-Finales ging der Titel am Ende nach Nürnberg. In der neuen Saison will Renate Wolf einen neuen Anlauf starten, wenngleich sie die Favoritenrolle weit von sich weist. Der HC Leipzig ist für die Trainerin im kommenden Jahr erster Anwärter auf den Titel. Den Sächsinnen unterlag die Bayer-Sieben am vergangenen Wochenende mit 25:29 im Halbfinale des stark besetzten Turniers in Wittlich. Beim ersten ernst zu nehmenden Formtest stand am Ende der Vorrunde eine ausgeglichene Bilanz gegen zwei Clubs aus Dänemark, wo die stärkste Frauen-Liga der Welt zu Hause ist und neuerdings auch Nadine Krause. Die 25-Jährige aus Waiblingen, die im vergangenen Jahr als erste deutsche Spielerin zur Welthandballerin des Jahres gewählt wurde, wechselte nach Saisonende zum FCK Handbold. Für Renate Wolf ein folgerichtiger Entschluss, auch wenn die daraus entstandene Lücke schmerzt: "Nadine war für uns sechs Jahre lang eine wichtige Kraft. Wenn man sich als Topspielerin weiter entwickeln will, braucht man Veränderung."
Auch ohne ihre Lichtgestalt kann die Trainerin auf einen erfahrenen Kader mit sieben aktuellen Nationalspielerinnen bauen. Darunter Torfrau Clara Woltering, die auch außerhalb des Kastens zeigt, dass sie zupacken kann: Die 24-Jährige Münsteranerin absolviert derzeit ihre Ausbildung zur staatlich geprüften Landwirtin und will später einmal den elterlichen Hof übernehmen. Drei DHB-Kolleginnen sind neu in der Mannschaft: Silke Meier und Anna Loerper überzeugten in Wittlich mit solider Leistung. Die dritte im Bunde laboriert derzeit noch an einem Kreuzbandriss und ist aus lokaler Sicht von Interesse: Laura Steinbach warf ihre ersten Tore für den TSV Urach, wechselte zum Zweitligisten TuS Metzingen und kam über Trier im Frühjahr nach Leverkusen. Schon am 25./26. August kann der Spross des ehemaligen NOK-Präsidenten Klaus Steinbach Heimatluft schnuppern, wenn die Bayer-Sieben beim internationalen Turnier in Bad Urach am Start sein wird.
So rosig die sportlichen Perspektiven, so ungewiss die finanzielle Zukunft der Leverkusener. Der angekündigte Rückzug des Bayer-Konzerns aus dem Sponsoring kommt für die Teamleitung einer Katastrophe gleich: "Keiner weiß derzeit, wie es weitergeht", sagt Renate Wolf, seit zwölf Jahren Trainerin und inzwischen auch Geschäftsführerin des Clubs.
Dem morgigen Gegner TV Nellingen stehen vergleichsweise wenig Turbulenzen ins Haus. Der Zweitligist von den Fildern behauptet sich im dritten Jahr im gesicherten Mittelfeld und schielt mit einem Auge und Neu-Trainer Stefan Haigis in Richtung Play-offs, auch wenn der Verein mit Karen Rücker eine der besten Außenspielerinnen der Liga ziehen lassen musste. Ein Fragezeichen steht für den morgigen Samstag noch hinter Neuzugang Christine Maric, die aus Göppingen kam und sich derzeit mit einer Erkältung plagt. So oder so: Allzu große Chancen rechnen sich die TVN-Verantwortlichen nicht aus. "Zwischen beiden Teams liegen Welten", meint Geschäftsführer Klaus-Dieter Faustka. "Wir wollen mutig spielen und uns gut verkaufen", sagt Stefan Haigis. "Eines werden wir nicht: in Ehrfurcht erstarren."
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