Teil 2:
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Rund 50 produzierende und dienstleistende Unternehmen sind mittlerweile vor Ort angesiedelt. Denn als der Bayer-Konzern sich ab den 1980er-Jahren aus Geschäftsfeldern zurückzog, wieder andere ins Ausland verlegte, musste sich die speziell auf die Chemie ausgerichtete Infrastruktur weiterhin rechnen: Neue Nachbarn wurden gesucht und gefunden. "29 000 Menschen arbeiten auf dem Areal", sagt Chempark-Chef Ernst Grigat, der in seinem Büro im Hauptgebäude vor riesigen Karten steht und erklärt, wie das Miteinander der einzelnen Firmen am Beispiel Chlor funktioniert: Rohstoffanlieferung, Hersteller und Abnehmer dicht beieinander. "Wir sind einer der größten Ausbilder der Region", sagt er. Die Auszubildenden strömen ins "Technikum". Jährlich bildet Currenta für Bayer, Covestro, Lanxess und andere Unternehmen rund 1 000 junge Leute am Standort aus. Zudem sind die Fachhochschule für Ökonomie und die Technische Hochschule Köln vor Ort.
Der Standort Leverkusen ist höchst aufnahmefähig, was qualifizierte Kräfte angeht. Das weiß auch Renate Helff. Wie so oft sitzt die Geschäftsführerin des Jobcenters zusammen mit Kollegen in ihrem Büro und diskutiert über die zu bewältigenden Probleme.
"Über 2 500 Menschen konnten wir im vergangenen Jahr in den Arbeitsmarkt integrieren", sagt Helff. Unter den Langzeitarbeitslosen der Stadt, zuständig dafür ist das Jobcenter, sind rund 70 Prozent ohne oder ohne verwertbaren Ausbildungsabschluss.
Auf der Suche nach Beschäftigung zogen viele von ihnen in den "Speckgürtel von Köln" , wo die Mieten immerhin ein wenig günstiger sind. "Sie erfolgreich zu vermitteln", bedauert die Jobcenter-Chefin, "wird schlichtweg immer schwerer, wenn nicht in berufliche Qualifizierung investiert wird." Also einfach stärker qualifizieren? Liegt dort der Schlüssel zum Verständnis der Leverkusener Probleme?
Nicht ganz. Hellfs Kundschaft für die extrem hohen Anforderungen des Leverkusener Arbeitsmarkts fit zu machen ist kaum zu bewältigen, betonen viele der Vermittler. Vollere Kassen, mehr Schulungsmaßnahmen könnten nur bedingt etwas daran ändern. Denn: Die Stadt ist kein klassischer Dienstleistungsstandort. Und für die Ansiedelung großer Logistiker, die oft auch geringer qualifizierte Kräfte einstellen, fehlt es schlichtweg an Flächen.
Wie es sich ohne Zugang zum Arbeitsmarkt lebt, zeigt sich an diesem Nachmittag im Stadtteil Wiesdorf. Der Wind treibt den Regen unter die aufgespannten Schirme, durchnässt Ärmel und Hosenbeine. Die Wartenden bleiben stoisch gelassen, stehen entlang der rot-weißen Absperrung in Reih und Glied. Für alle gibt es eine feste Abholzeit. Auch ohne schwarze Lederjacke und Jeans würde den agilen Tafel-Chef Adol.f Staffe kaum jemand auf 80 Jahre schätzen. 35 Jahre war er bei Bayer, als Chemiker und Betriebsleiter, seitdem leitet er nach eigenen Angaben ein "mittelständisches Unternehmen", dessen Zentrale sich im Schatten eines großen Mietshauses in einem Weltkriegsbunker befindet.
5 500 Bedürftige versorgt der Verein regelmäßig mit Lebensmitteln - 80 bis 85 Tonnen sind das im Monat, die zuvor bei den Supermärkten der Umgebung abgeholt werden. Heute können die freiwilligen Tafel-Mitarbeiter viel Frisches verteilen: darunter Radieschen und Spargel. "Leider ist die Tafel für viele längst mehr als eine Überbrückungshilfe", bedauert Staffe den Trend zur Dauerkundschaft. "Und es sind immer mehr geworden."
Eine wachsende Zahl Bedürftiger, anhaltend hohe Arbeitslosigkeit, geringere Steuereinnahmen - die Verantwortlichen der Stadt haben inzwischen erkannt, dass sie aus dieser Spirale herausmüssen. Dafür aber müssen sie die wirtschaftliche Monokultur des Chemiestandorts durchbrechen, was eigentlich kein Problem sein sollte: Autobahnen kreuzen sich, die Flughäfen Köln/Bonn und Düsseldorf liegen in der Nähe, der Rhein lockt als wichtiger Transportweg.
So ist im Leverkusener Innovationspark, auf dem Gelände des ehemaligen Stahlwerks Wuppermann, neues Leben entstanden. "Unsere Welt hat sich verändert. Wir müssen jungen Menschen in verschiedenen Bereichen Perspektiven bieten", sagt Frank Obermaier, Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung Leverkusen. Mittlerweile lockt die Stadt auch Ingenieure und Programmierer an sowie alle, die in der Gesundheitswirtschaft arbeiten möchten. Rund 50 Firmen haben sich bereits im Innovationspark angesiedelt mit etwa 1 300 Beschäftigten. Revitalisiert, so beschreibt es Obermaier, würden auch die Schusterinsel, ehemaliger Standort der Textilindustrie und die Neue Bahnstadt in Opladen, eines der größten Stadtentwicklungsprojekte in NRW.
"Der Standort Leverkusen ist so attraktiv, dass wir aus Berlin hierhin zurückgekommen sind", sagt etwa Markus Hensel, IT-Leiter bei Tropper Data Service. An diesem Nachmittag haben die Wirtschaftsförderer zum Mittelstandsdialog eingeladen, versorgen ihre Gäste im Innovationspark mit grünen Smoothies, Tomate-Mozzarella-Häppchen und Informationen über die "Roadmap der Industrie 4.0". Referent Jürgen Kaack von Breitband NRW, betont, dass Leverkusen bei der Versorgung mit schnellem Internet weit oberhalb des Landesdurchschnitts liege - ein weiteres Plus für den Standort, ein Plus für die Chancen qualifizierter Arbeitskräfte. Und die anderen?
Für die gibt es wenig Aussichten. "Der Schwerpunkt der Arbeitsplätze liegt bei höheren Fachqualifikationen", sagt Chempark-Chef Grigat. Sicherlich gebe es auf dem Gelände auch einige Dienstleister, die weniger qualifizierte Kräfte beschäftigten. Doch der Chemikant etwa sei heute ein Beruf mit dreieinhalbjähriger Ausbildung. Das frühere Wort "Chemiearbeiter" sei irreführend.
Das zeigt sich im Ausbildungszentrum des Chemparks, wo es heute um "Rektifikation" geht - das Auftrennen eines Vielstoffgemischs. Mit Schutzbrille und Helm stehen die Auszubildenden an Kesseln und Kondensatoren. Sie werden einmal chemische Großanlagen steuern und kontrollieren, die Sicherheit mitverantworten. Das Bedienen eines falschen Hebels kann höchst fatal sein.
So ist in der Branche kaum Platz für ungelernte Kräfte. Womöglich spitzt sich hier früher zu, was sich landesweit ankündigt: Einfache Arbeiten entfallen.
Quelle Handelsblatt Print vom 09.06.16 Seite 12 & 13