Weder Verschwörung noch Zufall: Was war die Corona-Krise?
Unsere Autorin plädiert für eine politökonomische Interpretation der Corona-Krise. In deren Zentrum steht der Aufstieg eines globalen „Biosecurity-Staates“.
Auszug:
Biosecurity als Management der Krise der Kapitalakkumulation
Es scheint nun, dass dieses Biosecurity-Dispositiv gleich auf mehreren Ebenen das zur Verfügung stellt, was der krisengeschüttelte Kapitalismus der Gegenwart braucht. Oder anders formuliert: Dieses Dispositiv gerät in eine gewisse Passförmigkeit zu den Krisenbewältigungsstrategien des Spätkapitalismus. Diese Krise hat viele Aspekte, die jedoch alle um ein Hauptproblem kreisen: Der Kapitalismus befindet sich seit geraumer Zeit in einer säkularen Stagnation, in deren Folge Gewinne in der produzierenden Industrie kaum mehr anhaltend zu erzielen sind. Da die Gewinne pro produzierter Stückzahl infolge der Rationalisierung laufend abnehmen, bleibt nur die Volumenausweitung der Produktion. Da wir aber irgendwann mit Handys eingedeckt sind, für einen zweiten Kühlschrank vielleicht noch Verwendung finden, aber nicht für sieben, stößt diese Volumenausweitung irgendwann an eine nicht nur ökologische Grenze. Marx nannte das den „tendenziellen Fall der Profitrate“.
So haben wir es seit den 1960er-Jahren mit einer stetigen, jeweils nur immer für kurze Zeit unterbrochenen Abnahme der Produktivitätszuwächse zu tun, und nur mit diesen Produktivitätszuwächsen können Kapitaleigner Gewinne erwirtschaften. An dieser Zuwachs-Schwäche ändert auch die sogenannte Industrialisierung 4.0 nichts. Im Gegenteil, sie beschleunigt diese Tendenz, weil sie in ihrer rasanten Ersetzung der Arbeitskraft durch Technologie das Potenzial zu weiteren Produktivitätssteigerungen noch rascher ausgeschöpft haben wird.
Der Effekt dieser Stagnation der gesellschaftlichen Gesamtproduktivität ist, dass maßgebliche Gewinne heute eigentlich nur noch im hochspekulativen Finanzsektor zu erzielen sind, was sich in einer gigantischen Geldmengenausweitung seit der Finanzkrise 2008 niederschlägt, die keinerlei Basis mehr in der Realwirtschaft hat. Diese Spekulationsblase hat den Preis von im Hintergrund stets drohenden und immer größer werdenden Finanzkrisen, zu deren Bewältigung es dann wiederum ein autoritäres Krisenmanagement braucht.
Es ist jedoch zentral zu verstehen, dass Krisen aus der Perspektive von Kapitaleignern durchaus nützlich sind: Als kontrollierte Entwertungen – von Volkseigentum, aber auch von kleinerem Privateigentum – ermöglichen sie neue lukrative Anlagemöglichkeiten. David Harvey spricht in diesem Zusammenhang von einer eigentlichen Enteignungs-Ökonomie, die er „Akkumulation durch Enteignung“ nennt. So ist es eben auch ein großes Missverständnis zu glauben, dass die durch die Lockdowns global induzierte Wirtschaftsschrumpfung für die kapitalistische Produktionsweise eine Bedrohung darstellen würde; das genaue Gegenteil ist der Fall.
Für die Bevölkerung bedeutet all dies aber primär eine Absenkung des Lebensstandards. Und hier kommt das Biosecurity-Dispositiv zum Zuge. Es verwaltet die im Zuge solcher Absenkungen zu erwartenden Aufstände. Noch wichtiger aber ist, dass es uns eine neue Lebensweise vermittelt, indem es uns – und das war das Zentrale an den Lockdowns – an eine digitale Armut gewöhnt. Damit meine ich gerade nicht, dass den Armen in der Sahelzone der Zugang zum Internet fehlt. Ich meine umgekehrt, dass die digitale Lebensweise eine eigene Form der Verarmung darstellt, die nicht als solche erscheint, weil sie gleichzeitig links-ökologische Werthaltungen bedient: digitale Spaziergänge zum Schutz der Natur, 15-Minuten-Städte zum Schutz des Klimas, Schwimmen am Bildschirm zum Schutz der Strände. Die Digitalisierung ist in erster Linie eine Form der Verarmung, wie sie im globalen Süden schon seit Jahrzehnten in Gang ist und nun auch im globalen Norden Einzug hält: Was man sich in vielen Ländern des globalen Südens sowieso noch nie leisten konnte – Reisen, Arztbesuche, Bildung, Krankengymnastik –, soll nun auch bei uns durch die Billigvariante einer App ersetzt werden.
Absenkung des Lebensstandards im globalen Norden
Was das Biosecurity-Dispositiv in Bezug auf die Absenkung des Lebensstandards im globalen Norden leistet, kann in vier Punkten zusammengefasst werden...