Warum rufen Regierungen einen Notstand aus?
Das führt uns zur letzten Frage. In der Demokratie gilt der Bürger als Souverän. Alle Macht geht vom Volke aus, so steht es im deutschen Grundgesetz. Der im Nationalsozialismus wohlgelittene Staatsrechtler Carl Schmitt meinte dagegen: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Was nun, wenn der Ausnahmezustand willkürlich und ohne demokratische, rechtsstaatliche Kontrolle ausgerufen werden kann?
Denken wir uns die Existenz von Notverordnungen weg, dann handelte es sich sogar im Falle der NS-Diktatur um einen Rechtsstaat. Zu diesem vielleicht überraschenden Schluss kam der Jurist und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel. Er analysierte die Rechtswirklichkeit des Dritten Reichs, welches er im Exil überlebte. Viele der heute geltenden Gesetze haben ihre Wurzeln in der Weimarer Republik und galten auch unter Hitler. Nur da, wo es gezielt zur Machterhaltung und Unterdrückung von Kritikern notwendig war, schalteten Notverordnungen die geltenden Gesetze aus. Fraenkel spricht von einem Doppelstaat, in dem weitgehend der Normenstaat gilt, der jedoch jederzeit vom Maßnahmenstaat, der sich an politischen Zweckmäßigkeitsüberlegungen ausrichtet, überstimmt werden kann. Im Falle des Dritten Reichs geschah dies bekanntermaßen in willkürlicher Weise, um die nationalsozialistische Ideologie durchzusetzen.
Was bedeutet dies für das staatliche Handeln in der Corona-Krise?
Es zeigt, wie anfällig unsere Freiheit ist, werden Notstände ohne fachliche Legitimation staatlich durchgesetzt. Es zeigt, wie einfach es geworden ist, an den Grundrechten vorbei Fremdinteressen, seien sie ökonomischer oder autoritärer Art, durchzusetzen. Es zeigt, dass unsere Grundrechte derzeit und vor allem in Zukunft nicht viel wert sind.
Wer nun Corona-Aufarbeitung fordert, um für die nächste Pandemie besser gewappnet zu sein, hat nicht verstanden, welche Form der Bedrohung Corona wirklich war und ist. Wenn es rein nach fachlichen Kriterien ginge, sind wir bestens gewappnet. Wir haben die Experten und wir haben die Methoden, um Epidemien sinnvoll zu begegnen. Man muss diese Experten nur hinzuziehen, anstatt sie auszugrenzen oder zu entlassen. Solche Experten hätten die Regierungen davor gewarnt, was nun in schrecklicher Weise eingetreten ist: Die sogenannten Schutzmaßnahmen haben einen viel größeren Schaden angerichtet, als es das Coronavirus je hätte verursachen können.
Die wirkliche Gefahr, die durch die Corona-Krise deutlich wird, besteht in der Leichtigkeit, mit der es möglich war, einen Notstand auszurufen, für den es zu keinem Zeitpunkt irgendeine Faktengrundlage gab. Es ist für derzeitige, angeblich der Demokratie verpflichtete Regierungen offensichtlich attraktiv, Notstände künstlich zu etablieren, um demokratische Rechte auszuhebeln. Corona hat gezeigt, dass sich diese Praxis der Notstandsfestlegung nicht mit einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat verträgt.
Die staatliche Befugnis, Notstände auszurufen, bedroht vielmehr als eigenständige Gefahr unsere Freiheit, unsere Gesundheit und unseren Wohlstand. Die Frage, die jede Corona-Aufarbeitung stellen muss, ist daher diese: Wie können wir zukünftig verhindern, dass die Regierung willkürlich einen Notstand ausruft und zu dessen Legitimation weisungsabhängige Behörden einsetzt, deren Vertreter in vollem Bewusstsein dessen, was sie tun, Verrat an allen wissenschaftlichen Prinzipien begehen?
Weg mit dem Vorrecht, einen Notstand zu deklarieren
Grundrechte sind Abwehrrechte gegen unerwünschte äußere Eingriffe in die Selbstbestimmung über das eigene Leben. Sie stehen in unserer Verfassung insbesondere als Abwehrrechte gegen einen übergriffig werdenden Staat. Daraus folgt: Grundrechte gelten entweder kategorisch (das heißt: absolut, unter keinem Vorbehalt stehend), oder sie gelten nicht. Wenn der Staat eine Notlage deklarieren kann, gestützt auf von ihm abhängige Behörden, und die Grundrechte einfach aussetzen kann, dann leben wir nicht in einem demokratischen Rechtsstaat.
Denn dann sind nicht die Bürgerinnen und der Bürger der Souverän. Dann leben wir in einem Obrigkeitsstaat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern Grundrechte als von ihm abhängige Privilegien gewährt, die er gemäß eigenem Ermessen aussetzen kann. Also: Weg mit dem Vorrecht der Regierung, nach eigenem Ermessen einen Notstand deklarieren zu können, und den entsprechenden gesetzlichen Grundlagen dazu. Eine Corona-Aufarbeitung, die dieses Thema nicht angeht, ist bestenfalls reine Zeitverschwendung, schlimmstenfalls Irreführung der Öffentlichkeit.